Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Wilhelm Ostwald, Jena, 1. Januar 1912

Jena 1. Januar 1912.

Lieber und verehrter Freund!

Die ersten Zeilen, die ich heute im Beginn des Neuen Jahres – des ersten „Neujahrs“ im „Monistischen Jahrhundert“! – schreibe, sollen ein herzlicher Gruss und Glückwunsch an Sie sein; und zugleich freundlicher Dank für das lebensvolle Porträt, durch das Sie mich gestern sehr erfreut haben; es erhält seinen Ehrenplatz in dera Porträt-Gallerie bahnbrechender Naturphilosophen, im Gedenksaal des Phyletischen Museums Am 26. Dezember habe ich mit ganz besonderen Gefühlen dankbarer Verehrung an Sie gedacht, im Hinblick auf die erfreulichen und weitreichenden Folgen, welche unser schöner, vor einem Jahre geschlossener Freundschaftsbund für unseren Monistenbund und die durch ihn geförderte Naturphilosophie bereits gehabt hat und sicher andauernd haben wird. ||

Mit Bedauern höre ich, dass Sie gerade an diesem Gedenktage von Unwohlsein zu leiden hatten; hoffentlich ist es inzwischen ganz beseitigt, so dass Sie mit Ihrer ewunderungswürdigen „Energie“ die vielen, im Jahresanfang Ihrer harrenden Aufgaben bald erledigen können.

Zu einer Erholungsreise im Januar oder Februar empfehle ich Ihnen erster Linie die Riviera ponente, an der ich schon oft (seit 1864!) die ermüdeten Nerven regenerirt, und im Genuss der südlichen Winter-Sonne, der blumenreichen Flora und der grossartigen Landschaft geschwelgt habe; der Verein von mannichfaltiger Küstenlandschaft und malerischer Formation der schneebedeckten Seealpen ist hier schöner, als an den meisten anderen Uferstrecken des blauen Mittelmeeres. ||

Bei meinem letzten Besuche der Riviera, im April 1910, wohnte ich höchst angenehm in einer kleinen Familien-Pension in Menton, die von einer feingebildeten englischen Wittwe vortrefflich gehalten wird, Mrs. Helene Stevens, Villa Lido, Menton Garavan. Sie spricht ebenso gut deutsch wie englisch, ebenso ihre 20jährige Tochter, Miss Dorothea Stevens, eine monistische Naturfreundin. Die Verpflegung ist gut (II. Cl.), der Pensions-Preis 9–10 Francs. Die kleine Villa nimmt nur 12–16 Gäste auf (meist Engländer). Die Lage der Villa Lido ist reizend, unmittelbar südlich das brandende Meer, nördlich die hohe Felswand der Rochess rouges, östlich (5 Min. entfernt) die Italiänische Grenze (Pont St. Louis, Castel Grimaldi), westlich die Stadt Menton, eine Trambahn führt vom nahen Bahnhof (Station Garavan) nach der Stadt und weiter nach Cap Martin. || Die Umgegend von Menton ist überaus reich an malerischen Berg- und Küsten-Partien, die mit Tram oder Eisenbahn leicht zu erreichen sind. Näheres schreibe ich Ihnen gern, wenn Sie hingehen. Übrigens sind auch an der nahen Italiänischen Riviera ponente Bordighera und San Remo sehr zu empfehlen, weiterhin (jenseits Genua), an der Riviera levante, Nervi und Rapallo.

Mit wiederholten besten Wünschen und herzlichen Grüssen

Ihr treu ergebener

Ernst Haeckel.

a eingef. mit Einfügungszeichen: der

 

Letter metadata

Recipient
Dating
01.01.1912
Place of origin
Country of origin
Possessing institution
Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, NL Ostwald
Signature
1041, 50/15
ID
41416