Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Charles Darwin, Jena, 9. [Juli 1864]

Jena 9. [Juli 1864] | (Sachsen & Weimar)

Höchst geehrter Herr

Von einer längeren zoologischen Reis[e ans] Mittelmeer zurückgekehrt, fand ich [Ihren] schon vor mehreren Monaten abge[sandten Brief] vor, der mir eine ausserordentlic[he Freude] bereitet hat. Derselbe giebt mir [die] Gelegenheit, Ihnen, theurer Herr, [nun auch] persönlich die vorzügliche Verehrung [und] ausserordentliche Hochachtung zu beze[ugen], die ich für den Entdecker des „Struggle [for] life” und der „Natural selection” hege. Von allen Büchern, die ich jemals gelesen habe, hat kein einziges auch nur annähernd einen so mächtigen und nachhaltigen Eindruck in mir hervorgebracht, als Ihre Theorie über die Entstehung der Arten. In diesem Buche fand ich mit einem Male die harmonische Lösung aller der fundamentalen Probleme, nach deren Erklärung ich beständig gestrebt hatte, seitdem ich die Natur in ihrem wahren Wesen kennen gelernt hatte. Seitdem hat mich Ihre Theorie—ich darf dies ohne Übertreibung sagen—täglich auf das angelegentlichste beschäftigt, und wo ich mein Auge in das Leben der Menschen, Thiere und Pflanzen || [eindri]ngen lasse, überall bietet sich mir [eine h]armonische Antwort auf alle noch so [verwic]kelten Fragen in Ihrer Descendenz–Theorie.

Da es Sie gewiss interessiren wird, [etwas ü]ber die Ausbreitung Ihrer Lehre [in Deuts]chland zu erfahren, so erlaube ich mir [folgend]es mitzutheilen. Die meisten älteren [Naturforsch]er, und unter ihren viele Autoritäten [erst]en Ranges, sind noch immer Ihre eifrigen Gegner. Diese Männer haben theils durch Hineinleben in die altgewohnten Dogmen die Fähigkeit verloren, alles Neue – auch wenn es die Wahrheit selbst ist – unbefangen zu würdigen und richtig zu erkennen, theils haben sie nicht den Muth, Ihre wahre Überzeugung von der Richtigkeit der Descendenz-Theorie zu bekennen. Viele schämen sich auch, Ihre frühere falsche Ansicht zu verbesseren, und endlich sind die meisten nicht fähig, das Ganze der Natur mit einem Blicke zu umfassen, da das ausschliessliche Studium der Details und die analytische Erforschung der Einzelheiten sie nicht zu einer allgemeinen Naturanschauung kommen lässt. ||

Dagegen wächst unter den jüngeren Naturforschern die Zahl Ihrer aufrichtigen und begeisterten Anhänger von Tage zu Tage, und ich glaube, dass in wenigen Jahren diese Zahl vielleicht grösser sein wird, als die Zahl Ihrer aufrichtigen Anhänger in England selbst. Denn die Deutschen scheinen mir im Ganzen (soweit ich dies beurtheilen kann) nicht so durch religiöse und sociale Vorurtheile befangen zu sein, wie die Engländer, obwohl diese den ersteren an politischer Reife und in Beziehung auf vielseitige Entwicklung gewiss weit überlegen sind. Die Macht des Clerus und der religiösen Dogmen und die Herrschaft der socialen Vorurtheile ist in den gebildeten Classen Deutschlands nur noch gering; wie ich auch aus der grossen und lebhaften Theilnahme schliesse, die Ihre Lehre hier meistens bei den gebildeten Laien findet. Die akademischen Vorlesungen, welche ich selbst und noch einige meiner jungen Collegen über Ihre Theorie halten, werden nicht allein von Studenten der Naturwissenschaft und Medicin, || sondern auch von Philosophen und Historikern, ja selbst von Theologen, besucht. Für die Historiker öffnet sich darin eine neue Welt, da sie in der Anwendung der Desendenz–Theorie auf den Menschen (wie sie Huxley und Vogt so glücklich versucht haben) den Weg finden, die Geschichte des Menschengeschlechts in die Naturgeschichte einzureihen. Allerdings ist grade hier in Jena für die Entwickelung und Ausbreitung solcher reformatorischer Lehren ein besonders günstiger Boden, da wir in jeder Beziehung hier die grösste Freiheit haben, während auf andern Universitäten, so z. B. in Göttingen und Berlin, viele Zwangs-Maasregeln die freiere geistige Bewegung verhindern. Indessen ist doch zu hoffen, dass die fortschreitende Entwicklung, welche sich auf allen Lebensgebieten in Deutschland Bahn bricht, auch die jetzt noch wiederstrebenden Elemente bezwingen und dann die Consequenzen Ihrer Theorie allgemein richtig werden erkannt und aufgenommen werden.

Sie erlauben nun vielleicht [noch] dass ich Ihnen Einiges [über meine] persönliche Stellung z[u Ihrer Theorie] mittheile da ich derselben m[ein ganzes] Leben zu widmen und auf ihr[en Weiterbau] alle meine Thätigkeit zu verwend[en gedenke]. Ich war dazu alsbald, nach[dem ich sie] kennen gelernt, entschlossen. Bereits [in meiner] ersten grösseren Arbeit, einer Mono[graphie] der Radiolarien (Berlin, Reimer 18[62) habe] ich mich beiläufig darüber ausgesproc[hen] (p. 232 a Anmerkung) und auch daselbst eine genealogische Verwandschafts-Tabelle dieser Thiere zu entwerfen versucht (p. 234). Dann ergriff ich im vorigen Jahre die Gelegenheit in Stettin, um zum ersten Male auf der Versammlung der deutschen Naturforscher die Frage zur Sprache zu bringen, woselbst sich auch eine ziemlich lebhafte Debatte in Folge dessen entspann. Obgleich ich von einem sehr eloquenten Redner Dr. Otto Volger aus Frankfurt, sogleich heftig angegriffen wurde, so habe ich doch viele Freunde Ihrer Theorie gewonnen, und auch Virchow, unser grösster wissenschaftlicher Mediciner, sprach sich beifällig darüber aus. ||

[Gegen]wärtig bin ich mit einer [grös]seren Arbeit über die [Coelentera]ten beschäftigt, welche Thiere [namen]tlich durch ihre complicirten [Entwickelu]ngs-Verhältnisse äusserst werthvolle [Beweise für] ihre gemeinsame Abstammung [von einer Stamm]form liefern. Auch bin ich in [diesem Frü]hjahr, wo ich an der Küste von [Nizza für] längere Zeit Medusen speciell unter[suchte], erstaunt gewesen über die ausseror[de]ntliche Breite der individuellen Variation, die bei manchen dieser Thiere vorkommt. Die Differenzen in der Bildung der wesentlichsten Theile sind hier oft bei verschiedenen Individuen einer und derselben Species viel grösser, als sie sonst zwischen verschiedenen Arten einer Gattung und selbst zwischen mehreren Gattungen einer und derselben Familie sich finden. Ich werde mir im nächsten Jahre erlauben, Ihnen meine hierauf bezügliche Arbeit zuzusenden.

Ausser dieser speciellen Arbeit beschäftigt mich schon seit mehreren Jahren || die Ausarbeitung einer allgemeinen Naturgeschichte, wobei ich gezeigt habe, wie jedes einzelne Capitel derselben durch die Descendenz-Theorie erleuchtet, und wie alle dadurch in den innigsten harmonischen Zusammenhang gebracht werden. Dieses Buch hoffe ich im nächsten Winter zu vollenden. Die öffentlichen akademischen Vorlesungen, welche ich an der hiesigen Universität über Zoologie, Vergleichende Anatomie, Paläontologie, Entwickelungsgeschichte und Histologie gehalten habe, haben mich in diesem Unternehmen stets sehr unterstützt.

Obgleich ich erst 30 Jahre alt bin, so hat doch ein schweres Schicksal, welches mein ganzes Lebensglück zerstört hat, mich bereits so reif und entschlossen gemacht, und mich gegen den Tadel, wie gegen das Lob der Menschen so abgehärtet, dass ich, völlig unbeirrt von äusseren Einflüssen jeder Art, nur das eine Ziel meines Lebens verfolgen werde, Ihre Descendenztheorie auszubreiten, zu stützen und zu vervollkommnen. ||

Verzeihen Sie, hochverehrter Herr, wenn ich Ihre kostbare Zeit durch diesen langen Brief schon allzusehr in Anspruch genommen habe. Allein es war mir das lebhafteste Bedürfnisse Ihnen Dasjenige einmal auszusprechen, was mich täglich auf das Vielfachste bewegt und bei allen meinen Arbeiten durchdringt. „Wess das Herz voll ist, dess fliesst der Mund über”.

Meine hiesigen Freunde und Collegen, der vergleichende Linguist August Schleicher, und der vergleichende Anatom Carl Gegenbaur, mit denen ich sehr häufig von Ihnen spreche, und die meine feste Überzeugung von der reinen Wahrheit Ihrer Lehre theilen, versichern Sie ihrer vorzüglichsten Hochachtung.

In dem ich, theurer Herr, hoffe, dass Ihre Gesundheit sich bessertb und Ihnen noch lange gestattet, den guten Kampf für die Wahrheit und gegen das menschliche Vorurtheil zu kämpfen, bleibe ich mit der vollkommensten Verehrung

Ihr ganz ergebener

Ernst Haeckel

a gestr.: ); b korr. aus: bessere

 

Letter metadata

Recipient
Dating
09.07.1864
Place of origin
Country of origin
Possessing institution
Cambridge University Library
Signature
DAR 166: 35
ID
40948