Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Marie Eugenie delle Grazie, Jena, 30. April 1898

Jena 30. 4. 1898.

Hochverehrtes Fräulein!

Über die guten Nachrichten von Ihnen und von unserem Freunde Prof. Müllner, habe ich mich sehr gefreut. Ihre freundliche Erkundigung nach meinem Ergehen kann ich leider nicht so befriedigend beantworten; ich hatte einen recht schlechten Winter, Frau u. Tochter fast beständig krank, und viel bettlägerig; Influenza, Nerven etc. etc. ||

Auch mit mir bin ich nicht zufrieden; mein Pessimismus ist im Wachsen. Ein philosophisches Werk (‒ eine weitere Ausführung des „Monismus“, der kürzlich in VII. Aufl. erschien ‒), an dem ich schon lange in Gedanken arbeite, will keine befriedigende Gestalt gewinnen. Ich werde eben alt und stupide, und es wird gut sein, wenn ich bald jüngeren Kräften Platz mache! ||

Mit großem Vergnügen las ich kürzlich zwei Werke: I. Adalbert Swoboda (früher Graz) „Gestalten des Glaubens“ – und dann II. Saladin, „Jehova’s Gesammelte Werke“ (Schaumburg, Zürich 1897). Ich kann diese monistischen Ketzereien jedoch Ihnen und H. Prof. Müllner nicht zur Lectüre empfehlen, wenn Sie wieder im Sommer nach Wörishofen gehen wollen; sie würden sicher der „Kneipp-Kur“ schaden! ||

Auch fürchte ich, daß dann die gehoffte Kanonisirung oder Sanctificirung (wie sagt man eigentlich? ‒) ausbleibt. Ich freue mich schon jetzt, in den „Wörishofener Blättern“ zu lesen: „Seine Heiligkeit Pabst Leo XIII, haben die weltberühmte Kirchen-Dichterin Frl. Eugenie delle Grazie heilig gesprochen (als „Sancta Eufemia Lea“) und den rechtgläubigen Prof. Laurenz Müllner unter die Schaar der modernen Kirchenväter aufgenommen (als „Sanctus Molinarius V.“).“ In dieser Hoffnung bleibe ich mit herzlichen Grüßen

Ihr alter Ernst Haeckel

 

Letter metadata

Dating
30.04.1898
Place of origin
Country of origin
Destination
Wien
Possessing institution
Wienbibliothek, NL Marie Eugenie Delle Grazie
Signature
H.I.N. 90689
ID
40876