Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Bartholomäus von Carneri, Jena, 20. Februar 1895

Jena 20.2.95.

Lieber hochverehrter Freund!

Ihr liebenswürdiger Brief hat mich hoch erfreut, aber zugleich tief gerührt, wenn ich an die Mühe denke, welche Ihnen das Schreiben bei Ihrem leidenden Zustande gemacht hat! Wie gerne würde ich Ihnen helfen, und Ihnen bei Ihrer herrlichen Geistesfrische noch eine ganze Reihe von Jahren glücklichen Schaffens u. idealen Genießens verschaffen! Aber das ist gerade das Elend unsrer schönen ärztlichen Kunst, daß wir es im Erkennen herrlich weit gebracht haben, aber im Heilen noch immer auf dem alten Flecke sind! ||

Ich studire jetzt Abends – wenn mir die Arbeit Zeit läßt! – den „Robespierre“ von Eugenie delle Grazie; mit größtem Genuß habe ich namentlich den XII. Gesang, die „Mysterien der Menschheit“ gelesen. Unsere Gedanken werden sich dabei wohl oft begegnen! Ich bewundere den kühnen und umfassenden Geist der Dichterin dabei fast noch mehr, als ihr hohes u. seltenes poetisches Talent. Sie muß ein ganz außerordentliches Exemplar der seltenena Species: Homo sapiens sein! Wenn Ihnen das Schreiben nicht so schwer würde, möchte ich Sie fast bitten, mir Einiges über die Entwickelungsgeschichte dieses wunderbaren Menschenkindes mitzutheilen. || Falls Sie das hervorragende Epos in der „Neuen Freien Presse“ besprechen, darf ich wohl um einen Abzug bitten.

Als ich im November auf Schloß Altenstein beim Herzog von Meiningen u. seiner geistreichen Gemahlin Frau von Heldburg war (– früher Schauspielerin Ellen Franz) theilte ich ihnen die Dichtungen von Eugenie delle Grazie mit; sie erregten ihr lebhaftes Interesse.

– Ich selbst bin leider noch immer (und wohl noch für dies ganze Jahr) durch die dreibändige „Systematische Phylogenie“ gefesselt, ein streng wissenschaftliches Werk, das eine Menge neuer (– u. hoffentlich zum Theil richtiger) Gedanken enthält. Lesen wird es wohl kaum Jemand! ||

Dagegen hat mein kleiner „Umsturz-Artikel“ in der Zukunft einen ganz unverhältnißmäßigen Erfolg gehabt. Ich habe einen ganzen Stoß von telegrafischen u. schriftlichen „Zustimmungs-Adressen“ erhalten (– auch eine von Eduard Süss! –). Es ist jämmerlich zu sehen, in welchen Zickzacklinien u. mit welchen Rückwärtssprüngen die arme Menschheit fortkriecht!

– Mit besten Wünschen für baldige andauernde Besserung Ihrer Gesundheit, u. mit herzlichsten Grüßen (– auch an Ihre lieben Kinder! –)

Ihr treuer alter

Ernst Haeckel

a eingef.: seltenen

 

Letter metadata

Dating
20.02.1895
Place of origin
Country of origin
Possessing institution
Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Slg. Wilhelm Börner
Signature
H.I.N. 167240
ID
40185