Haeckel, Carl Gottlob; Haeckel, Charlotte

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin 22. Oktober 1866, mit Nachschriften von Charlotte Haeckel

Berlin den 22 Octob. | 66.

Mein lieber Ernst!

Sehnlichst hatten Mutter und ich auf Deinen Brief aus London gewartet, als er endlich heute bei uns eingieng. Das dachte ich mir wohl, daß London einen ungeheuern Eindruk auf Dich machen würde, denn es kommt dem keine Stadt in Europa gleich. Du wirst gewiß die wenigen Tage, die Du dort bist, recht benutzen, um Dich gehörig zu orientiren. Hast Du Darwin nicht gefunden oder ist er verreist? Daß Du noch Deinen Zweck die canarischen Inseln zu sehn und zu genießen, wahrscheinlich erreichen wirst, ist sehr schön und bereichert mit Ansichten und Kenntnißen wirst Du hoffentlich gesund zurükkehren. Wir leben hier bei sehr schönem Wetter ina gewöhnlicher Weise fort. Die Morgen werden schon kalt (nur 3 Grad Wärme) da gehe ich denn um 8 Uhr eine Stunde und länger im Thiergarten spatzieren, ruhe mich dann aus und akre meine Erdkunde v. Ritter durch. Es ist wahrlich keine leichte Arbeit bei Ritters Art, sich so oft zu wiederholen, die Quintessenz heraus zu finden. Ich laße mich aber die Arbeit, so viel Geduld sie erfordert, nicht verdrießen, um den Ritter für meine Kinder genießbar zu machen. So bin ich denn schon die Mongolei, das hohe Tubet und die Himalaja Gegenden durchwandert und werde nun weiter nach Delhi, Benares, Calcutta und Dekan fortschreiten. Asien ist doch ein gewaltiges Land von großen eigenthümlichen Bestandtheilen, welche durch Wüsten und Gebirge geschieden sind und deßen Länder eben wegen ihrer geographischen und climatischen Eigenthümlichkeit wieder besondre Individuen darstellen. Ich lobe mir aber doch Europa, besonders seinen westlichen und südlichen Theil. Europa ist zu einer großen, vielseitigen geistigen Entwikelung geschaffen und von hier aus soll menschliche Kultur und Bildung über den ganzen Erdboden verbreitet werden. Mich in dieser noch recht zu orientiren, dazu benutze ich die Muße meiner alten Tage und erwarte in Ruhe den Heimgang in jene Welt. Tante Bertha ist vor einigen Tagen nach Landsberg gereist, um ihren Geburtstag dort bei Carl und den Kindern zuzubringen. Sie hätte nichts beßeres thun können. Carl ist doch oft sehr wehmütig zu Muthe, wenn er seine Mimi nicht mehr an seiner Seite sieht. Aber andererseits hat uns auch die wüthende Krankheit die Cholera dem Himmel näher gebracht und durch Humboldts || Kosmos bin ich in der Sternenwelt einheimischer geworden und ich sehe jetzt bei den schönen, nun schon langen Abenden oft mit Sehnsucht in sie hinein und möchte gern einen Blik thun in die geistige Entwikelung, die uns dort erwartet, muß mich aber vorläufig mit dem unumstößlichen Glauben daran begnügen. Dieses kurze Leben ist ja nur ein kleiner Anfang von dem, was uns dort erwartet und Anna und Mimi werden vielleicht in einer Zeit, die uns lang deucht, die ihnen aber in ihrer weiteren Entwikelung kurz vorkommen wird, ganz andre Dinge erfahren als wir mit unserm beschränkten Blik hier auf Erden. In sofern ist die hiesige ungewiße Existenz, an welche uns die Cholera erinnert, eine recht paßende Vorbereitungs-Zeit.

Ich lebe mit Mutter in dem gewohnten Gleise fort, studire am Tage, mache meine Promenaden im Thiergarten, nehme Besuche an, an denen es nicht fehlt, besonders von den nahen lieben Verwandten und suche mich, wenn ich müde bin, vom Arbeiten od. Gehen durch Schlaf zu stärken, der täglich wohl einige Mahl bei mir einkehrt. So erwarte ich ruhig meine Zukunft, wünsche aber allerdings noch einige Jahre zu leben, da grade jetzt die Zeit für Europa jetzt in einer großen Entwikelung begriffen ist. Italien und Deutschland sollen selbstständig werden, der äußere Anfang ist gemacht, aber die innre individuelle Entwikelung braucht Zeit und wir haben jetzt voll auf zu thun, um diese recht zu begreifen und zu fördern. Auch Du mein lieber Ernst, wirst durch Deine Studien dazu beitragen und der gründliche Deutsche wird durch seine Entdekungen einen wesentlichen Antheil an dem großenb Fortschritt des geistigen Erdenlebens nehmen. Die neuern Erfindungen der Dampfschiffahrth und der Eisenbahn haben uns jetzt die Mittel gegeben, uns auf der Erde zu orientiren, sie kennen zu lernen und sie zu benutzen und dadurch soll es auch jedem Lande auf der Erdkugel erstc möglich werden, den Beruf zu erfüllen, der ihm angewiesen ist. Der Nordländer und der Südländer, jeder tauscht die Gaben aus, die ihnen Gott hat zukommen laßen und so wird erst eine recht vollständige vielseitige Bildung möglich werden. Siehe nur zu, was Du auf den canarischen Inseln finden wirst und theile uns dann Deine Erfahrungen mit. ||

[Nachschrift Charlotte Haeckels]

Dienstag

Mein Herzens Ernst!

Tausend Dank für Deinen so sehnlich erwarhteten Brief, der gestern uns erfreute. Wie sehr freue ich mich daß Du gesund bist, und in London sowohl aufgenommen bist bei der Schwiegermutter Deines Freundes Binzd. Auch ist es mir lieb, daß Du doch Deinen Wunsch nach Madeira zu gehn noch wirst erfüllen können. Gott sei mit Dir! Erfreue uns oft durch Nachricht, und sei vorsichtig! – –

Am vorigen Sonnabend war Tante Berthas Geburtstag, der gewöhnlich bei uns gefeiert wird, was sie aber diesmal entschieden nicht wünschte; und || lieber nach Landsberg gereist ist; mir war das auch recht lieb für Karl und die Kinder, und für uns, daß man hört, wie alles geht. – Ich habe Deinen Brief gleich gestern an Karl geschickt, nach dem ich ihn auch F. Weiß mitgetheilt hatte, auch Heinrich u. Gertrude, alle grüssen Dich herzlich. Heute früh war Max Schultze aus Bonn bei Vater, aber so eilig, daß ich ihn nicht gesehn habe; als ich vor kam war er schon weg.

Heute erhielt ich einen Brief von Erdmann, der sehr bittet ob er den Winter nicht eine Deiner Stuben zur Arbeitsstube benutzen könne, oben sei ihm die Mansardenstube zu || kalt, und die Wohnung unten zu eng; er habe den Muth darum zu bitten, weil er wisse, daß Du Bücher und Schreibereien verpackt habest. Deinee Schränke sollten unberührt stehn bleiben. Er würde Deine Möbel so viel es nöthig seif heraussetzen, er würde dies mit Gegenbauer zusammen thun; Erdmann schreibt, er übernehme alle Garantie für die Sicherheit der Wohnung, und alleg andern Räume als die eine Stube würden unter Verschluß bleiben, bei Deiner Rückkunft würde er Dir angemessene Vergütung honhorieren. Da er nicht wisse wohin er Dir schreiben könne, so bittet er ich möchte Gegenbauer die || Vollmacht geben, ihm eine Stube aufzuschließen. Ich werde Erdmann schreiben, Du wärsth von seinem Wunsch benachrichtigt und würdest drüber bestimmen, welche Stube er benutzen soll; denn ganz abschlagen wirst Du es doch kaum können.

[Nachschrift Carl Cottlob Haeckels]

Mein lieber Ernst! Heute früh besuchte mich Max Schultze aus Bonn einen Augenblik. Er war sehr eilig. Er wollte von hier zu Reimer gehen und sich Dein Buch holen, um es schon unterwegs zu lesen. Für die Zoologie, meinte er, wäre Dein Buch ein großer Gewinn und für die Wißenschaft ein großer Fortschritt. Da hättest Du also nicht umsonst gearbeitet, Du armer Kerl, denn man mußi Zeuge gewesen sein, um zu wißen: welche Mühe und Noth Dir das Buch gemacht hat, die darin aufgestellten Ideen hatten Dein ganzes Wesen in Beschlag genommen, Du hattest keine Ruhe, bis es heraus war. So muß es aber auch sein, wenn etwas Neues zu Tage gefördert werden soll und Mutter und ich freuen uns, Dir die Geburt dieser Ideen durch unsre freundliche, nicht störende Gegenwart erleichtert zu haben. Wir sind nun auf weitre Nachrichten von Dir und was du Alles noch in London i gesehen und erlebt haben wirst, sehr begierig. Schreibe uns ja recht ausführlich. Dein Dich liebender alter Vater.

[Nachschrift Charlotte Haeckels]

Nach Deinem Brief werdet Ihr 5 Tage bei Lissabon Quarantäne halten, ich denke da hast Du Zeit, uns recht ausführlich alles zu schreiben, || was Du bis dahin erlebt hast. –

Meine Trennung von Dir war so traurig und so schnell, daß es mir oft ist als müsse ich noch so manches mit Dir besprechen, und Dich über alles befragen, was noch in der letzten Zeit uns beschäftigte. – –

Tinchen Schiek, die bei Huschkes wohnte, ist in Merseburg gestorben. Wir haben in der Familie wieder in der letzten Zeit aufregende Tage gehabt; am vorigen Donnerstag wurde Hermann Naumann mit meinem Wärther her geschickt, weil er verrückt geworden war, da hatte Heinrich viel zu besorgen || in Auftrag von Onkel Julius. Sonntag früh ist Hermann zu H. Reimer nach Görlitz in die Anstalt gebracht [worden]. Vielleicht geht es bald glücklich vorüber, wie ich höre muß er sich den Sommer unsinnig erkältet haben. –

Nächsten Sonnabend ist Tante Bleek ihr Geburtstag, ich werde ihr dazu schreiben, und danken für Deine freundliche Aufnahme. – Vater und ich sind gesund. – Nun nochmals, lebe wohl, mein Herzens Ernst; und strenge Dich nicht wieder so unsinnig an, Maaß in allen Dingen. – Mit inniger Liebe umarmt Dich Deine Mutter

Lotte.

a gestr: auf; eingef.: in; b irrtüml.: geisten; c eingef.: erst; d irrtüml.: Bins; e korr. aus: Seine; f eingef.: so viel es nöthig sei; g korr. aus: würden; h korr. aus: würd; i eingef.: muß; j irrtüml. doppelt: noch

 

Letter metadata

Recipient
Dating
22.10.1866
Place of origin
Country of origin
Possessing institution
EHA Jena
Signature
EHA Jena, A 35957
ID
35957