Haeckel, Carl Gottlob; Haeckel, Charlotte

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 3. Februar 1867, mit Nachschrift Charlotte Haeckels

Berlin 3 Febr. 1867.

Mein lieber Ernst!

Ich kann Mutters Brief doch nicht fortgehen laßen, ohne einige Worte an Dich zu richten. Ich habe in den letzten beiden Monaten fast ausschließlich in der Reformation gelebt und diese von Carl V. an bis zu Ende des 30 jährigen Krieges durchstudirt. Das ist ein Zeitraum von 130 Jahren und man erkennt diesen Zeitraum mit Recht als einen wesentlichen Abschnitt der Weltgeschichte, da auch die Entdekung von Amerika in denselben fällt und der Protestantismus in demselben Wurzel gefaßt hat. Zu Ende des 30 jährigen Krieges, mit dem westphälischen Frieden war die religiöse Freiheit erobert und fest begründet und mit dem Beginn dera Reformation gieng das Mittelalter zu Ende, nachdem das Pabstthum, welches zuletzt ganz entartet war, seine Dienste geleistet und die in der Völkerwanderung vorgedrungenen germanischen Völkerschaften b so weit civilisirt hatte, daß die Reformation Wurzel faßen und c wie auf einen Wink geordnet hervortreten konnte. Man wird in der gegenwärtigen neuesten Zeitperiode um so mehr daran erinnert, da diese, wie sie seit 1789 undd 1848 begonnen, eigentlich nur als eine Fortsetzung jener frühern religiösen Reform zu betrachten ist, in dem sie das Licht der Wahrheit aus dem religiösen auf das politische Gebiet übertragen und so die Entwikelung der Menschheit zur Humanität auf allen Seiten fördern soll. Wir stehen wiederum an einem neuen Abschnitt der Weltgeschichte. Deutschland, welches so lange geknechtet und ein Spielball der Fremden gewesen, soll endlich seine politische Selbstständigkeit erhalten und ich bin auf die Entwikelung des norddeutschen Parlaments, die in diesem Monat beginnen soll, sehr begierig und ich wünschte wohl noch ein Paar Jahre zu leben, um zu sehen: wie diese Entwikelung sich Bahn brechen wird? –

Gleichzeitig fängt nun auch an der Winter zu weichen, der mir doch, so günstig er auch für die Studien || ist, den Körper in einer Art Gefangenschaft erhält. Die langen Abende sind zwar sehr schön zum Studiren, aber es ist nicht angenehm, Abends im Finstern beim Laternenschein spatzieren zu gehn, welches ich täglich hier im Thiergarten bis zum Hofjäger gethan habe, während ich meinen Spatzier Vormittag gleich nach dem Frühstük (ich stehe um 8 Uhr auf) von e 9 bis 10:00 Uhr zu machen pflege. Aber diese ganz reguläre Lebensart, f die zwischen Spatzierengehn, Ruhen, Schlafen und Arbeiten wechselt und noch einige Stunden um Besuche anzunehmen, übrig läßt, halte ich für durchaus nothwendig, um mir mein kräftiges Alter, solange es Gott gefällt zu erhalten. Gern möchte ich g noch ein Paar [Jahre] mit Euch zusammen leben bleiben, bis auch Dein äußeres Leben und Carls sich mehr regulirt hat. Jetzt im Winter gehe ich nicht nach Landsberg, da die Tage zu kurz gewesen sind und h mir dort für meine Spatziergänge die paßende Localität fehlt. Wenn die Tage aber wieder länger geworden und das Frühjahr herbei kommt, wünsche ich wieder hin, um den Kinderkreis vollständig zu sehen; und wenn der Sommer kommt, dann komme ich auch wieder zu Dir nach Jena. Im August gedenke ich dann nach Hirschberg zu reisen, um meine Heimath zu sehen und die neue i Gebirgseisenbahn zu probiren, da man jetzt in 8 j Stunden von Hirschberg bis Berlin fahren kann. –

Deine litterarischen Fehden werden nun wohl jetzt beginnen. Gestern schikte mir Reimer die Recension von [ ], die mir wohlgefallen hat und Dir Gerechtigkeit widerfahren läßt. Ich habe mich darüber gefreut. Denn ohne Kampf giebt es kein Leben. Ich gedenke zunächst noch die || Ansichten über die homerischen Inseln von Leopold Ranke etc. zu lesen und mich dann an dein Werk zu machen und zu versuchen: wie weit ich es in deßen Verständniß bringen werde? An Seebeck k, der seinen so lange kranken Sohn kürzlich verloren hat, l welcherm von seinem Leiden erlöst ist, habe ich gestern auch geschrieben und ihn, was Dich betrifft, an Gegenbauer verwiesen, von dem er alles, was Deine Gegenwart betrifft erfahren werde, auch über die Kollegien, die Du künftigen Sommer lesen willst. Wir freuen uns ungemein auf Deine Rükkehr und können dieselbe kaum erwarten, wenn wir dich im Anfange nicht sehen werden.

Dein dich liebender Alter

Hkl

[Nachschrift Charlotte Haeckels]

n

|| o dafür daß er mir zwei so brave Söhne gegeben hat. Von Karl hatte ich heute Nachricht; er ist mit den Kindern wohl; natürlich fehlt ihm seine treue Mimmi. Auch wir sind gesund. Ich hoffe noch morgen von Dir einen Brief zu bekommen, der letzte war vom 17 December.p

q Nimm noch den innigsten Kuß von Deiner alten Mutter, die Dich sehr bittet, vernünftig zu sein.

r Tante Bertha ist seit einigen Tagen in Potsdam, weil Gertrudchen auf 8 Tage zu ihrer T. Hirzel nach Leipzig gereist ist.

s Auch heute, Mittwoch, ist wieder kein Brief gekommen. Karl hat schon einigemal Zeitungen an Dich geschickt.

a korr. aus: des; b gestr.: civi; c gestr.: sich; d eingef.: 1789 und; e gestr.: von; f gestr.: diese; g gestr.: gern; h gestr.: ich; i gestr.:E; j gestr.: Tagen; k gestr.: ha; l gestr.: und; m gestr.: der; eingef.: welcher; n Textverlust durch Ausschnitt; o mit Einfügungszeichen eingef.: dafür daß er...vom 17 December.; p Textverlust durch Ausschnitt; q weiter am Rand v. S.3: Nimm noch den...vernünftig zu sein.; r weiter am Rand v. S. 2: Tante Bertha ist...Leipzig gereist ist.; s weiter am Rand v. S. 1: Auch heute, Mittwoch...an Dich geschickt.

 

Letter metadata

Recipient
Dating
03.02.1867
Place of origin
Country of origin
Possessing institution
EHA Jena
Signature
EHA Jena, A 35950
ID
35950