Haeckel, Carl Gottlob

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 1. Februar 1854

Berlin 1 Febr. 54.

Mein lieber Ernst!

Vor einer Stunde erhielten wir übera Ziegenrück Deinen Brief vom 26sten, nach welchem wir uns sehr gesehnt hatten. Wir sind am 23sten in Einem Tage hieher gereist, Mutter, Christian, Schubert und ich. Es war ein schöner Tag, früh hatten wir 8 Grad Kälte. Der Schnee war schon ziemlich verschwunden. Du klagst über meinen letzten magern Bericht. Nun will ich noch einiges nachholen. Christian und ich hatten uns auf große Kälte und viel Schnee gefaßt gemacht. Beides ist nicht eingetreten. Während unsers ganzen 8-tägigen Aufenthalts in Ziegenrück hatten wir schönes Wetter. Was nun die Taufe betrifft, so heißt Dein kleiner Pathe: Carl Christian Heinrich, nach den beiden Großvätern und dem Urgroßvater. Es ist ein prächtiger Junge, kräftig und lebendig, der immer mit Händen und Füßen arbeitet und sich gern möglichst verständlich machen möchte, was er aber nicht kann, da ihm die Sprache fehlt. Er manövrirt mit dem Munde so gut es geht und hat, wie Mimi heute schreibt, seinen Vater schon kräftig an seinem langen Kinnbarte gezupft, was ihm großes Vergnügen macht, eben so ein Hampelmann, den ihm Schubert geschenkt hat. Auch fühlt er das Bedürfniß, sich freier zu regen und will aus dem Stekkißen heraus. Wir müßen nun die weitere menschliche Entwikelung abwarten. Getauft wurde in Mimis Stube, es waren 14 am Tisch. Christian, Mimi, der Superintendent, die Cousine, a Harras, Carl, Adolph, die Doktorin, ich, Lindig, der Baumeister, Mutter, der Doktor und die Harras. Genannt wird der Kleine: Carl! Pathen waren anwesend: die beiden Großväter, Adolph, die Doktorin, und Lindig. Abwesend, Urgroßvater Sethe, Tante Bertha, Ernst Haeckel, Großonkel in Aurich, Tante Berken, Helene Jacobi. Wie Du schon weißt, waren wir bis Abends gegen 8 Uhr zusammen, die in der Gegend wohnenden verloren sich allmählich. Unser Lebenslauf in Ziegenrückb war etwa folgender: Gegen 8 Uhr aufgestanden, (ich etwas früher, um mein Waßer zu trinken), dann Frühstük, dann wurde der Kleine besichtigt und gebadet, wobei er sich sehr behaglich fühlte. Gegen Mittag etwas spatzieren gegangen, gleich Nachtisch ebenfalls mit Christian, Adolph und Carl, dann machten diese nebst Mutter ein Spielchen, ich las, dann wurde Abendbrod gegeßen und Schlafen gegangen. Der Kleine wurde 4–5 Mahl am Tage und Abend besehn, und machte seine gewöhnlichen Streiche mit Mund, Händen und Füßen. Der Kleine war die Hauptperson, um ihn drehte sich alles, auch verstand || er schon, in großen Bogen ein Pipi und uns damit naß zu machen. Ich strich wohl auch, da der Himmel sehr schön war, Abends zwischen 8–9 Uhr auf der Chaussee herum um mir Himmel und Gegend zu besehen. Die Berge und Schluchten in ihrer großen Ruhe und Einsamkeit machten einen großen Eindruk auf mich, es war als ob sie mir etwas über das göttliche Wesen verkündigen und zu mir sprechen wollten. Der Schnee gukte aus den Fichten hervor und ich fand die Gegend auch im Winter schön. Am 2ten Tage unsrer Ankunft war noch Schlittenbahn, der Rechtsanwalt offerirte uns seinen Schlitten und ich fuhr mit Christian bis auf die Höhe bei Rhanis, wo sich das Saalfelder Thal aufthut, was ich mit den dahinter liegenden Bergen so schön finde. Die Natur steht mir näher als vielen andern Menschen, ich finde in einer schönen Gebirgsnatur eine Erquickung, die vielen andern abgeht. Das ist mein Natursinn, bei Dir hat er sich nur anders gestaltet, aber von mir hast Du ihn, ich kann Stunden lang da sitzen und in Berge und Schluchten hineinsehn und mich mit ihnen unterhalten und fragen: wie sie wohl so geworden sind und was sie uns von der Vorzeit zu erzählen haben? Aber keine sprachliche Antwort! Ueber diesen schönen Schluchten der Saale und den sie umgebenden Bergen vergeße ich das Nest Ziegenrück, was Christian so wie das dortige Leben ungemein mißfallen hat. Im vorigen Sommer gieng es mir auch so, aber die Natur hat mich ausgesöhnt und Carl und Mimi haben doch einige Familien, mit denen sie leben können. Das Schlimmste und unverbeßerliche ist nur, daß Carl zu einer sinnigen, geistigen Betrachtung und Lektüre keine Zeit hat und dies drükt ihn. Er hat während Mutters 2½ monatlichem dortigen Aufenthalt manchmal darüber geklagt, und darum darf er, so Gott will, nur einige Jahre dort aushalten, sonst geht er geistig zu Grunde; mein lieber guter Carl, er ist doch ein recht innerlicher braver Mensch, voller Gewißenhaftigkeit und Berufstreue. Ich habe ihn und Mimi ungemein lieb; so wie mir überhaupt auf meine alten Tage das Familienleben, hier mit Großvater, Bertha, Julius, Adelheid recht wohl thut. Nach Mutter habe ich mich sehr gesehnt und bin froh, daß ich sie wieder bei mir habe. Sie muß Pflaster von Theer tragen, um den Ausschlag hinter den Ohren und am Halse abzutroknen. Quincke hat sie in die Kur genommen. Die Klagen Christians über das Ziegenrücker Loch und allend Mangel an geselligen Bedürfnißen und dem, was man so zu den Amüsements des gewöhnlichen Lebens rechnet waren ordentlich komisch. Ich gab ihm zu, das Ziegenrück ein Loch sei, || brachte ihm dagegen doch die schöne Natur in Rechnung und das Dasein einiger hübscher Familien, wie Doktors, Harras (der doch für Musik empfänglich ist und gut spielt), den Baumeister. Aber alles wurde zurückgewiesen. Ziegenrück war und blieb ein trauriges Loch. Er bringt vielleicht künftigen Sommer Minchen hin und besieht sich Thüringen, dann söhnt er sich vielleicht etwas aus. Mich zieht Thüringen mit seinen Bergen, Wäldern, kleinen Residenzen, seiner Kultur, seinen schönen Thälern sehr an und wenn ich mir hier das erbärmliche Junker- und Philisterpack, die schlaffen Beamten, den Knechts- und Subalternensinn ansehe, dann fühle ich mich hier keinesweges behaglich. Nur daß es doch hiere auch eine wißenschaftliche Welt und Kunstgenüße und viele einzelne empfängliche Menschen und ein innres f gemüthliches Familien Leben giebt, was einen wieder aussöhnt. Sehe ich mir aber die Maße unsres Volks (hohe und niedere) an, wie es in diesem Augenblik ist, dann bin ich schlecht erbaut, besonders wenn ich in die höhern Sphären hineinrieche und die Erbärmlichkeit der vornehmen Welt zu schmeken bekomme; welch eine Armseligkeit, Plattheit, Fadheit, Albernheit, daß einem ganz übel wird. Hätte ich nicht den Glauben an eine göttliche Vorsehung, die alles zum Besten richten wird, ich könnte gleich von hier auswandern, aber wohin? In England ist doch noch die meiste Freiheit und das meiste Selbstbewußtsein! Nach Deinen Briefen scheinst Du ja fast zu verzweifeln, daß Du jemals Reisen machen wirst. Darin kann ich Dir nicht beistimmen. So Gott will, wirst Du reisen und Dich an einer prachtvollen Natur ergötzen. Vor einigen Tagen sprach ich Ehrenberg, er wiederholte mir, Du müßtest den medicinischen Kursus durchmachen, auch tüchtig Deine Mikroskopie studiren, Dir zu den Studien Zeit laßen, um sie gründlich durchzumachen, dann reisen und dann sehen, was zu machen ist. Die Zulukaffern machen hier viel Aufsehn und ziehen viele Menschen zu Krolls. Lichtenstein wünscht, daß Wilhelm Bleek her käme, sich mit ihnen unterhielte und dann über die Resultate Auskunft gäbe. – Sonst leben wir uns wieder in gewohnter Weise hier ein, Adolph wohnt in Chambre garni, und besucht uns öfters, wird auch fleißig das Klavier in Anspruch nehmen, er hat mir erst vorgestern Variationen vorgespielt. Ernst Reimer ist seit einigen Tagen hier, ich habe ihn gesprochen. Er hat 10 Mahl die Linie paßirt. Er ist ein junger, kräftiger, breitschultriger, männlicher, einfacher und unverdorbener Mensch. Das Seeleben hat ihn sehr gekräftigt. Der Kampf mit dem Element || bildet einen männlichen Charakter. Die Sundainseln im indischen Archipelagus nennt er das Paradies der Erde, Himmel, Vegetation, Naturschönheiten aller Art. Die malabarische Küste hat ihn sehr angezogen, auch die Hindus, ein schönes Volk im Gegensatz der Chinesen, die zwar sehr fleißig, aber höchst eigennützig und betrügerisch sind. An der malabarischen Küste haben ihn besonders die Elephanten intereßirt, sie erwarten unsre menschlichen Arbeiter mit vielem Verstand und Geschicklichkeit, setzen z. B. Holzstöße, schieben mit ihren Köpfen ein Schiff, das vom Stapel gelaßen wird, in die See. Das heiße Klima ist auf dem Schiff viel erträglicher, wie auf dem Lande. Die Hottentotten am Cap sprechen fast alle holländisch. Er hofft allmählich Steuermann und dann Schiffskapitain zu werden, was ein sehr einträgliches Gewerbe ist. An der Mittagssonne wird mit Hülfe des Chronometers die nördliche Breite und an den Nachmittagen die östliche Länge, wo sich das Schiff befindet, gemeßen und darnach der weitere Lauf bestimmt. Der Uhrmacher Tiede hier verfertigt sehr schöne Chronometers. Ich werde den Ernst Reimer noch weiter ausfragen und Dir dann mehr erzählen. Für heute genug, mein lieber Ernst! Es ist Unrecht, daß Du den Studentenball nicht wenigstens auf einige Stunden besucht hast. Gott hat uns auf diese Welt nicht gesetzt, um Einsiedler zu sein, sondern um mit den Menschen zu leben und für sie zu wirken. Deinem Sonderlingshang mußt Du entgegenarbeiten, aber alles mit Vernunft genießen. Dein Dich liebender Vater

Hkl

NB. Das Spatzierengehen außer der Chaussee bergauf und ab war bei der Glätte sehr beschwerlich, wir mußten Eissporen tragen.g

a gestr.: Carl; b eingef.: in Ziegenrück; c eingef.: Bogen; d korr. aus: alles Fehlen; e eingef.: hier; f gestr.: Familien; g Nachtrag auf S. 2 oben: NB Das Spatzierengehen … Eissporen tragen.

 

Letter metadata

Recipient
Dating
01.02.1854
Place of origin
Country of origin
Possessing institution
EHA Jena
Signature
EHA Jena, A 35908
ID
35908