Haeckel, Karl

Karl Haeckel an Ernst Haeckel, Ziegenrück, 27. Juni – 17. Juli 1853

Ziegenrück

27 Juni 53.

Mein liebster alter Junge,

glaube nicht etwa, daß wir Deiner nicht viel, sehr viel gedenken, weil wir selten schreiben. Grad jetzt, wo die Natur um uns herum so schön ist, streifst Du oft in meinen Gedanken mit mir durch die herrliche Gegend und findest hier oder dort eine seltne Pflanze die Dir unser Ziegenrück um so lieber macht. So sehe ich grad unter den Fenstern unsrer Eckstube, in der ich jetzt schreibe eine Menge von Deinen geliebten „Schotenbiestern“ an dem Rande der neuen Straße stehen. Bei meinen Lokal-Expeditionen suche ich stets nach Moosen und lege Dir zum Beweis dafür einige von den gefundenen bei: Das eine nicht bezeichnete nennen sie hier Waldgerste.

In den letzten Wochen habe ich ein unruhigeres Leben geführt, als sonst. Ende Mai war zuförderst eine lange Deputations-Sitzung. Dann reiste ich zum 9t Juni nach Jena, um Krukenberg’s Hochzeit mit zu feiern. Weiter mehrere Lokal-Termine, Pösnecker Jahrmarkt, auf dem ich mir mit eigenen Füssena eine Mütze holte, in der jüngst vergangenen Woche endlich b das Vogelschießen, das uns stets Gäste von außerhalb zuführt. Diesmal || c kam gleichzeitig der Oberpräsident von Witzleben, der bei mir eine Tasse Kaffe zu trinken u. mich um die schöne Aussicht zu beneiden geruht hat, und mein Regierungs Assessor Butze aus Zeitz, der als Spezial-Kommissarius in Ablösungssachen hier in der Gegend zu thun hat, und mit dem ich viel über alte Heidelberger Zeiten geplaudert habe. In 14 Tagen haben wir wieder Sitzung und einige Wochen später kommt dann der liebe Alte aus Berlin. Du glaubst gar nicht wie wir uns darauf freuen.

Recht von Herzen gratulire ich Dir dazu, daß Du endlich den Zustand des Schwankens zwischen Naturwissenschaften (d oder vielmehr Mathematik) und Medizin überwunden hast und jetzt frisch an letztere herangehst. Die schönen Kollegien, die Du jetzt hörst, werden e Dich mit ihr noch mehr aussöhnen. Aber schreibe uns doch, mit wem Du nähere Bekanntschaft gemacht hast. Nach Deinem Briefe u. nach dem, was Du nach Berlin geschrieben, scheinst Du Dich doch enger an einige Commilitonen angeschlossen zu haben.

den 14 Juli.

Nach dem heute zu Ende gegangenen Deputationstrubel dieser Woche will ich nun auch gleich frisch ans Werk gehen und Dir || auf Deinen netten Geburtstagsbrief antworten. Die Adresse zum Kistchen faßte ich glücklich ab als der Bote sie am 6ten zu Mimmi hinauf bringen wollte. Die beiden trullen Dinger haben uns viel Spaß gemacht. Ist‘s nicht eigen, daß beide Brüder ganz dasselbe Geschenk an ihre Mutter und meine Mies gemacht haben. Ich habe beiden eine Hirschberger Bibel gegeben. Wie wir hier zum 8ten gelebt haben, wird Dir wohl Mimmi erzählen. Deine beiden Flaschen sind noch intacti (oder ae?) weil Erdbeerbowle getrunken wurde, dazu aber der Steinwein natürlich zu schade war. Nun, Du sollst sie dafür auch noch selbst mit austrinken helfen. Etwas dürfte jedenfalls gar noch von den Köstlichkeiten des Tages zu erwähnen sein: daß der Hund „Flink“, unser schwarzer Köter, von seiner zahlreichen Schar zwickender Flöhe durch Absuchen eines Gefangenen gründlich befreit wurde. So wird der Namenstag- || f tag einer leutseligen Hausfrau gefeiert!! Unser Thiervolk hat sich nun auch durch einen Kanarienvogel vermehrt, der allerliebst singt. Von der Gegend sage ich Dir nichts, die ist wirklich wunderschön, wie sie jetzt nur sein kann. Zum Beweise, daß ich sehr oft an Dich denke lege ich zwei Moosarten bei die hier sehr häufig sind und die ich im Juni vor 5 Wochen gesammelt habe. Das Größere heißt ich weiß nicht wie; das Kleinere nennen sie „Waldgerste“. – Ist das größere nicht dasselbe mit dem, was Du mir geschickt hast. Besagte zwei Moose fand ich bei einer Verscharrung eines 3 Monate im Freien gebaumelt habenden Menschen, der so im Walde gefunden war und dessen Leiche nun von Gerichts wegen aufgehoben werden mußte. Du kannst Dir denken, daß das vollständige Todtengesichte mit seinen Käfer- und Fliegenbewohnern einen schönen Anblick darbot.

Auch Schotenbeest wächst, nebst Bilsenkraut massenweis an der neuen Straße um das Schloß herum. Unten auf dem Schießstande sind jetzt einige Turngerüste aufgebaut und 2mal in der Woche wird dort mit || g 12-18 Stück Stadtjugend geturnt. Den Jungens macht die „Springstunde“, wie sie es nennen, viel Freude.

Von Aegidi erhielt ich neulich sein Buch das er zur Habilitation geschrieben, ein gelehrtes Ding, das Aufsehen erregt. Er erkundigt sich sehr nach Dir.

den 17 Juli.

Der Brief soll nun mit fort, da Mimmi endlich geschrieben hat. Ich kann nur noch weniges dazu schreiben. Die ersehnten Ferien sollten eigentlich schon am 21t anfangen, allein ich werde wohl erst 8 Tage später frische Luft schnappen können.

Vater wird wohl den 4t od 3t August mit Karl v. Grolmann von Erfurt her kommen was uns sehr freuen wird. Wir zählen schon jeden Tag. Am 8t August etwa denken wir (d.h. Vater Lindig, Voigt, Harras, u. ich) eine Excursion nach Nürnberg anzutreten, wo wir uns 2 Tage aufhalten wollen. || Auf dem Rückwege soll Kloster Banz besucht und über Coburg, Suhl, Ilmenau, Koenigssee, Saalfeld heimgekehrt werden.

Mit meiner Mies lebe ich wie immer vergnügt. Gestern haben wir einen über 2 Std. langen Spaziergang auf den Berg hinter dem Schießhause, und durchs Plotenthal zurück gemacht, und sind sehr befriedigt; unser Flink ist jetzt der stete Begleiter auf unseren Spaziergängen.

Ade, liebster Junge mehr kann ich nicht schreiben, wenns auch Sonntag ist.

In alter Liebe Dein

Karl.

a eingef.: mit eigenen Füssen; b eingef.: das; c gestr.: mal; d gestr.: oder; e gestr.: sie Dir; eingef.: Dich mit ihr; f gestr.: tag; g gestr.: mit

 

Letter metadata

Author
Recipient
Dating
17.07.1853
Place of origin
Country of origin
Possessing institution
EHA Jena
Signature
EHA Jena, A 35420
ID
35420