Haeckel, Charlotte; Haeckel, Carl Gottlob

Charlotte Haeckel an Anna und Ernst Haeckel, Berlin, 2. Februar [1863], mit Beischrift von Carl Gottlob Haeckel

Den 2ten

Februar

Liebe Kinder!

Gestern früh kam Euer so sehnlich erwartteter Brief; und gestern Nachmittag von Karl einen, worin er uns die glückliche Ankunft des vierten Jungens schreibt. – Wie froh bin ich, daß das glücklich vorüber ist, Gott helfe weiter. – Daß Ihr gesund seid, freut mich, hoffentlich hat Ernst nur blaue Flecke vom Fall bekommen, er soll sich künftig besser in Acht nehmen. – ||

Einliegender Zettel ist an Ernst gekommen, ich habe das Kouvert abgemacht.

[Beischrift von Carl Cottlob Haeckel]

2.II.63.

Liebe Kinder! Daß Mimmis Niederkunft nun endlich glücklich vorüber ist, hat uns sehr gefreut. Wir haben uns die letzte Woche recht gebangt. Gott helfe weiter.

Vorige Woche haben mich die Kammerreden sehr in Anspruch genommen. Es ist mir sehr begreiflich, wie sich der König durch die Sophistereien der Absolutisten irre führen läßt. Die a Faßung der betreffenden Artikel der Verfaßung laßen den böswilligen Sophisten hinreichenden Spielraum, auch hat man dieses bei Abfaßung der Charte vorausgesehen und das jetzige Getriebe kommt denen, die damals an der Charte mit gearbeitet haben nicht unerwartet, man hat aber damals keine beßere Faßung finden zu könnenb geglaubt, c und sich mit der bestehenden begnügt, da der Sinn der Charte für den, der redlich sehen will, nicht zweifelhaft ist. Wenn die Regierung nach Lust und Belieben bestimmen kann, wie stark die Armee sein soll und den Beutel des Volks in Anspruch nehmen darf, dann brauchen wir keine Verfaßung, dann herrscht Willkühr und das Steuerbewilligungsrecht, was schon die alten Stände hatten, und was ein wesentliches Erforderniß jeder constitutionellen Verfaßung ist, wird dann ganz illusorisch. Es kommt jetzt nur darauf an, daß das Volk fest hält an seinem Rechte. Auf die Länge muß dieses Recht wieder gelten und die Gewalt verstummen. Ueber den endlichen Ausgang der Dinge bin ich völlig ruhig. ||

Das jetzige Wetter ist unerträglich und widerlich. Doch freue ich mich, daß der Februar herangerückt ist und daß die Tage länger werden.

Ich spüre es jetzt sehr merklich, daß ich kein Siebziger mehr, sondern ein Achtziger geworden bin: die Beine wollen nicht mehr so richtig fort wie früher. Aber ich laße mich nicht abhalten, täglich 2 Mahl 1 Stunde zu gehen. Ich glaube, dieses erhält meine Gesundheit. Auch der Schlaf in der ersten Hälfte der Nacht ist nicht mehr so gut wie sonst. Ich lebe, um meine Gesundheit möglichst zu erhalten, ganz regulär, einen Tag wie den andern und lebe nur im Kreise meiner nähern Bekannten, ich lebe meiner Lektüre und meinen Betrachtungen, an denen es nicht fehlt, wenn man ein buntes Leben durchgemacht hat. Man gewinnt im Alter mehr Ruhe, weil man nicht mehr mitspielt, sondern den Zuschauer macht und weil die gemachten Erfahrungen uns lehren, was man auf dieser Erde zu erwarten hat. Man macht nicht mehr die Ansprüche an die Welt, wie in jungen Jahren und doch wird man des sichern Ganges der Weltgeschichte d nach ewigen Gesetzen immer gewißer. Die Entwickelung der Menschheit geht ihren gemeßenen Gang und so unvollkommen dieses Leben erscheinen mag, der göttliche Funke, der göttliche Geist des Menschen ist unverkennbar, man muß nur von dieser Welt nicht zu viel verlangen, sondern begreifen, daß dieses Erdenleben nur ein Stadium der Entwickelung des göttlichen Geistes ist.

Ich habe hier unter meinen Büchern 2 broschirte in gelbem Papier, von denen ich ungewiß bin wo sie herrühren und ob sie mir gehören. Mir schwebt dunkel: als ob iche eines oder beide von Dir Ernst, oder von Carl zu Weihnachten erhalten.

Erzählungen von Gottfried und Johannes Kinkel

und Leben des Fürsten Blücher von Wahlstatt von Varnhagen von Ense

Gieb mir hierüber, so weit Du es vermagst, Auskunft. ||

[Nachschrift von Charlotte Haeckel]

Du sagtest, lieber Ernst, wir würden die Tafeln zu Deinem Buche wiederbekommen, wir haben aber keine bekommen.

[Nachschrift von Carl Gottlob Haeckel]

Lest nur die englische Geschichte von Ranke immer weiter, sie ist höchst intereßant und ins besondere für uns Preußen belehrend. Freilich werden wir deshalb immer unsere eigene Geschichte behalten. Preußen ist durch mehrere große Fürsten allmählich ein Großstaat geworden. Er kann sich aber als solcher (und dieses liegt in der politischen Entwickelung von ganz Europa) nicht mehr durch Fürsten erhalten, sondern das Volk muß ihn stützen, weil die Weltgeschichte auf die politische Entwickelung der Völker und ihrer Freiheit hin drängt. Die Völker sind zum Bewußtsein ihrer selbst gekommen und die blinde Folgeleistung hat wenigstens bei uns ein Ende. Unsere ganze Armeeorganisation trägt noch zu sehr das Gepräge des vorigen Jahrhunderts, der König ist im Geist jenes Jahrhunderts erzogen und versteht das gegenwärtige nicht, er kann sich nicht darein finden. In diesem Sinn will er die Armee organisiren, die Zukunft, der nächste Krieg wird es aber lehren, daß auch die Kriegführung des 19ten Jahrhunderts eine ganz andere geworden ist als die des 18ten und daß auch die Organisation darnach eingerichtet sein muß. Heut zu Tag kämpfen die Völker mit Bewußtsein ihrer Existenz, dieses wird von Militärs gewöhnlichen Schlags gar nicht begriffen, sie kennen nur ihre militärischen Traditionen und ihren Ruhm aus früheren Kriegen, und schlagen sich dafür, ein der Freiheit nachstrebendes Volk aber schlägt sich für seine selbständige freief politische Existenz nach innen und nach außen. Das Bewußtsein, was uns die künftigen Siege mit erringen helfen muß, ist den gewöhnlichen Militärs eine terra incognita. Das verstanden nur Männer wie Gneisenau etc. Für heute genug

Euer Alter Hkl.

a gestr.: Ab; b eingef.: können; c gestr.: da der; d gestr.: da; e eingef.: ich; f eingef.: freie

 

Letter metadata

Dating
02.02.1863
Place of origin
Country of origin
Possessing institution
EHA Jena
Signature
A 35407
ID
35407