Ernst Haeckel an Carl Theodor Ernst von Siebold, Jena, 21. Dezember 1873
Jena 21 December 73
Lieber und verehrter Freund!
Daß Du mit meiner Infusorien-Arbeit einverstanden bist und daß ich Dir durch meine, hoffentlich nunmehr definitiv festgestellte Begründung Deiner richtigen Theorie eine Freude bereiten konnte, hat mir zu hoher Befriedigung gereicht. Ich hielt es allerdings im Interesse der Sache selbst für sehr wichtig, das principiell Bedeutende der Einzelligkeits-Theorie scharf hervorzuheben. Mir scheint dadurch und durch die damit verbundene scharfe Grenzlinie zwischen den Protozoen und Metazoen das phylogenetische Verständniß der Verwandtschaften im Thierreich wesentlich gefördert zu sein. || Ich habe übrigens (was mir sonst bei meinen Arbeiten nicht passirt) in diesen Tagen eine ganze Reihe von Zustimmungsschreiben zu meinem Infusorien-Aufsatz (von Weismann, Moebius, Oscar Schmidt und Anderen) erhalten, die mir beweisen, wie schwer die herrschende Unklarheit in dieser wichtigen Frage empfunden wurde und wie befriedigend die Restitution Deiner Einzelligkeits-Theorie wirkt. Auch ist ja, wie ich aus dem gestern erhaltenen Hefte der Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie sehe, Dr. Everts ganz zu denselben Resultaten gelangt. In Berlin, wo jetzt der Herd aller rückläufigen wissenschaftlichen Bestrebungen ist, wird man freilich anderer Ansicht sein. ||
Beifolgend sende ich Dir in zwei Exemplaren (von denen ich eins an die Münchner Akademie abzuliefern bitte) eine Arbeit über die Homologie der Keimblätter, welche die weitere Ausführung meiner darauf bezüglichen Studien enthält, die ich bereits am Schluße der „Monographie der Kalkschwämme“ und ebenso am Schluße des Infusorien-Aufsatzes angedeutet habe. Nachdem ich mich durch das ganze Chaos der neueren embryologischen Literatur durchgearbeitet, bin ich zu der festen Überzeugung gelangt, daß nur die in der „Gasträa-Theorie“ ausgedrückte Auffassung ein klares und einheitliches Verständniß der wichtigsten thierischen Entwicklungs-Verhältnisse ermöglicht. || Ich bin damit zu einem vorläufigen Abschluße meiner Reform-Bestrebungen auf dem Gebiete der Entwickelungsgeschichte und ihrer Anwendung auf die Systematik gelangt. Es würde mich sehr freuen, wenn Du auch diesen Ansichten im Wesentlichen Deine Zustimmung geben könntest. Ich glaube übrigens auch aus Deinen Schriften zu ersehen, daß Du meine Bemerkungen über die Typen-Theorie billigen wirst.
Indem ich Dich bitte, die Einlage an Deine verehrte Frau Gemahlin zu geben und indem ich Dir und Deiner lieben Familie ein recht vergnügtes Weihnachtsfest wünsche, bleibe ich in aufrichtiger Verehrung Dein treu ergebener
Haeckel