Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Carl Theodor Ernst von Siebold, Jena, 23. Dezember 1870

Jena 23 December 70.

Hochverehrter Freund und College!

Durch diese Zeilen möchte ich Sie um freundliche Auskunft in einer Angelegenheit bitten, die mich seit einigen Tagen sehr lebhaft beschäftigt. Ich habe nämlich von dem Wiener Unterrichts-Minister Stremayer kürzlich eine Berufung nach Wien an Stelle unseres verstorbenen Collegen Kner bekommen, und möchte mich über die definitive Annahme dieser Lehrstelle nicht entscheiden, ohne vorher möglichst gut über die zu erwartenden Verhältnisse instruirt zu sein. Da ich mich nun zu erinnern glaube, daß Sie aus Ihrem Verkehr mit Kner und gelegentlich Ihrer schönen ichthyologischen Untersuchungen mit den Verhältnissen der Kner’schen Stellung gut bekannt sind, möchte ich Sie freundlichst ersuchen, mir Ihre Ansichten darüber offen mitzutheilen. ||

Besonders werthvoll würde es mir sein, zu erfahren, wie es mit den dortigen zoologischen Attributen, mit Sammlung und Institut, aussieht. So viel ich weiß, hat die Universitäts-Sammlung nichts mit dem großen kaiserlichen Naturalien-Cabinet zu thun. Ist die erstere gut, oder wenigstens für den Unterricht ausreichend? Existirt ein besonderes zoologisches Institut, worin die Studenten sich üben, mikroskopiren und selbstständige Arbeiten anstellen können?

Wissen Sie, wie die beiden zoologischen Professuren von Kner und Schmarda zu einander standen? Soviel ich weiß, hält letzterer noch Vorlesungen.

Und nun die Hauptfrage, würden Sie mir überhaupt, soweit Sie die Wiener Verhältnisse kennen, rathen, die Berufung anzunehmen? ||

Natürlich versetzt mich die ganze Angelegenheit in nicht geringe Unruhe. Man hat bei uns von allen österreichischen Verhältnissen so schlechte Ansichten, daß meine besten Freunde mir von Annahme der Berufung abrathen. Anderseits aber muß ich mir klar machen, daß ich vor einem entscheidenden Wendepunkt meines ganzen Lebens stehe.

So gern ich auch hier war, und so glücklich ich in meiner hiesigen zehnjährigen Thätigkeit war, so habe ich doch, besonders in den letzten Jahren, das Verlangen nach einem größeren Thätigkeitskreise wohl gefühlt. Wenn ich aber jetzt den Ruf nach Wien ablehne – wie ich bereits vor fünf Jahren den Ruf nach Würzburg abgelehnt habe, – so scheint mir dasb fast so viel zu bedeuten, als daß ich mich für immer an Jena binden will. ||

Wenn ich überhaupt an ein dereinstiges Verlassen Jenas dachte, so haben mir immer nur München, Wien oder Heidelberg als die drei deutschen Universitäten vorgeschwebt, die ich wohl gern einmal mit Jena vertauschte. Freilich würde ich es vorgezogen haben, die späteren Jahre, wenn Ihnen die Lasten Ihres Amtes zu schwer geworden wären, einmal Ihr Nachfolger zu werden, da ich München ganz besonders liebe. Da aber nun jetzt sehr überraschend auf einmal die ganze ernste Entscheidung eines Rufes nach Wien an mich herantritt, muß ich mich bald zwischen Wien und Jena entscheiden. Ich würde Ihnen sehr dankbar sein, hochverehrter Freund, wenn Sie mir in c freundschaftlicher Offenheit Ihre Ansicht über diesen Schritt, der mein Lebens-Schicksal entscheidet, nicht vorenthalten wollten, und sage Ihnen im Voraus dafür meinen besten Dank.

Mit freundlichsten Grüßen Ihr ergebenster

Haeckel

P.S. Ich habe auch Prof. Zittel, der ja längere Zeit in Wien war, gebeten mir seine Ansichten mitzutheilen.

a gestr.: mir; b korr. aus: daß; c gestr.: Ihr

 

Letter metadata

Dating
23.12.1870
Place of origin
Country of origin
Possessing institution
EHA Jena
Signature
EHA Jena, A 32687
ID
32687