Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an August Weismann, o. O. [Jena], 3. Mai 1871

3 Mai 71

Lieber Freund und College!

Ihr freundlicher Brief erreichte mich Ende Februar, wenige Tage bevor ich eine zweimonatliche Reise nach Dalmatien und Monte-Negro antrat. Ich wollte Ihnen sogleich antworten, kam aber nicht dazu, da es gar zu Viel zu thun gab; ebenso auf der Reise. Entschuldigen Sie also freundlichst, daß ich Ihnen erst heute, nach meiner glücklichen Rückkehr, antworte. Aus meinem Schweigen werden Sie zunächst schon entnommen haben, daß ich den gewünschten Aufsatz von Wallace über „Mimicry“ nicht besitze. Wallace hat mir überhaupt noch Nichts geschickt. ||

Ich werde mir übrigens jetzt die deutsche Übersetzung der vermischten Aufsätze von Wallace anschaffen, in welcher, wenn ich nicht irre, auch der Aufsatz über „Mimicry“ enthalten ist. Falls Sie denselben jetzt noch brauchen können, bin ich natürlich gern bereit, Ihnen denselben zu schicken.

In Betreff der „Migrations-Theorie“ von Moritz Wagner stimme ich, wie Sie aus der II. Aufl. meiner Schöpfungsgeschichte vielleicht gesehen haben werden, wesentlich mit Ihnen überein. Es ist merkwürdig, wie wenig gesunde Kritik in Betreff solcher „Theorien“ existirt. Nicht allein in München, sondern auch an vielen anderen Orten, wird jene „Migrationstheorie“ neben oder gar noch || über die Selections-Theorie von Darwin gestellt. Ich bin allerdings allmälig an die außerordentlichsten Erfahrungen in Betreff wissenschaftlicher Urtheile und Kritik gewöhnt. Übrigens würde ich es doch bei dem allgemeinen Urtheils-Mangel für recht nützlich halten, wenn Sie Wagners Argumente einmal gründlich widerlegten, zumal derselbe jetzt überhaupt Darwins Selections-Theorie jeden Werth abspricht!

Ich hoffe überhaupt sehr, Sie noch oft als wackeren Mitkämpfer im Kampfe um die Entwicklungslehre zu finden; das ist sicher, daß die ganze Lehre und der Kampf um dieselbe jetzt riesige Dimensionen annehmen wird, nachdem Darwin selbst endlich mit dem „Descent of men“ hervorgetreten ist und die „Catarrhinen-Theorie“ (!!) bekräftigt hat. ||

Außerordentlich gefreut hat es mich, daß Ihr böses Augenleiden sich bessert und gegründete Hoffnung zur völligen Beseitigung desselben vorhanden ist. Ich sende Ihnen dazu meine besten Wünsche.

Ich bin gegenwärtig noch immer mit meiner Monographie der Kalkschwämme beschäftigt, die hoffentlich in diesem Jahr fertig wird. In Dalmatien habe ich dafür noch ein sehr reiches Material gesammelt. Sie besitzen wohl in Ihrer Sammlung keine Kalkschwämme (Sycon? Leucosolenia? Grantia?) Andernfalls würde ich Sie bitten, sie mir zur Ansicht zu schicken. Im Übrigen geht es mir gut. Zu meinem munteren Jungen, der jetzt schon 2½ Jahr alt ist, hat sich im Januar ein kleines Schwesterchen gesellt. Auch Gegenbaur geht es gut. Daß ich die Berufung nach Wien abgelehnt habe, haben Sie wohl gehört.

Mit herzlichsten Grüßen Ihr Haeckel

 

Letter metadata

Recipient
Dating
03.05.1871
Place of origin
Country of origin
Possessing institution
Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., Autographensammlung
Signature
Autographen-Nr. 1080
ID
32508