Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Marie Luise Nebuschka, Jena, 3. Januar 1917

Jena 3.1.1917.

Liebes Fräulein!

Durch Ihren liebenswürdigen Brief und das reizende, mit so viel Liebe und Geschmack gestickte Buchzeichen: „Aus Indien“ haben Sie mir eine große Weihnachtsfreude bereitet. Die farbenfreudigen Figuren der Orchideen und Papageien, dieser charakteristischen Schmuckstücke der herrlichen Tropenwälder, haben Sie so fein und naturgetreu wiedergegeben, daß ich mich ganz in die glücklichen Zeiten meiner indischen Reisen, Ceylon und Insulinde, zurückversetzt fühle. Auch Ihr freundliches Anerbieten, mir für meine anderen Bildermappen ähnliche Buchzeichen zu sticken, was ich dankend ablehnen muß!)a – vor Allem aber für Ihre liebevolle Teilnahme an meiner persönlichen Existenz in diesem traurigen vierten Winter des Weltkrieges – sage ich Ihnen meinen herzlichsten Dank! Leider kann ich Ihnen über diese letztere nichts Erfreuliches berichten. Seit 8 Wochen geht es mit meiner schwachen Gesundheit, besonders der Herztätigkeit, so bedenklich abwärts, daß ich nur noch auf wenige Wochen Lebensrest rechnen kann! ||

Am 10. November (dem Geburtstage von Schiller und Goethe) machte ich den letzten Versuch, noch einmal in meinen kleinen Garten zu gehen. Beim Hinaufsteigen der Steintreppe überfiel mich plötzlich ein Schwindel-Anfall, ich stürzte, die letzten Stufen herunter und fiel der Länge nach auf den Rücken. Ein zufällig vorübergehendes Mädchen sah mich hier bewußtlos liegen und kam mir zu Hilfe. Die äußeren Verletzungen in Folge des Sturzes waren gering; aber die Gehirn-Erschütterung und die zunehmende Lähmung sind Folgen, die sich immer störender bemerkbar machen. Ich kann nicht mehr allein gehen und noch weniger geistig und körperlich arbeiten. So bin ich denn gezwungen, an das nahende Ende zu denken und bin nur noch damit beschäftigt, meine letzten Verfügungen über die literarischen und wissenschaftlichen Sammlungen zu treffen, die ich im Laufe von 84 Jahren angelegt habe. Den kommenden Sommer werde ich vielleicht noch durchhalten, länger aber nicht! ||

Meine Kinder in München und Leipzig, die leider immer nur auf einige Tage mich besuchen können, sind sehr besorgt um mein Wohl und haben schon öfter zu meiner Pflege eine Hausdame suchen wollen. Indessen sind die beiden Dienstmädchen, die ich seit 6 Jahren habe (eine kluge ältere Köchin, die die vielen Schwierigkeiten der jetzigen Kriegszeit geschickt zu überwinden weiß, und ein verständiges ordentliches Stubenmädchen) vollkommend ausreichend, um meine einfache Häuslichkeit zu besorgen. Bei der herrschenden enormen Teuerung, den Mangel an Kohlen und an genügenden Nahrungsmitteln, bin ich gezwungen, alle Verhältnisse möglichst einfach einzurichten. Ich heize nur 3 Zimmer, oben meine Arbeitsstube, unten die Küche und das Ruhzimmer der Mädchen. –

Oft schon habe ich daran gedacht, wie angenehm mir die Gesellschaft einer frei gebildeten Hausdame sein würde; und daß Sie in Ihrer jetzigen, wenig befriedigenden Tätigkeit des Zivilkriegsdienstes vielleicht diese Stellung zu übernehmen geneigt sein würden. Allein so wie die Verhältnisse sich jetzt gestaltet haben, erscheint die Erfüllung dieses Wunsches ganz ausgeschlossen! Ich werde die letzten Monate in meiner einsamen Klosterzelle in gewohnter Ruhe und Resignation, wie schon seit 3 Jahren, verleben. ||

Als Sie im Frühjahr mich durch Ihren lieben Besuch erfreuten, haben Sie die Naturschönheiten unseres lieben Saaltals von der angenehmsten Seite kennen gelernt. Jetzt würde es Ihnen wenig gefallen. Der lange Winter ist hier rauh und öde, dies Jahr besonders unangenehm! –

Ich bin froh, daß es mir (mit großer Mühe!) gelungen ist, im Sommer meine letzte Arbeit zu vollenden, die „Kristallseelen“. Ich sende sie Ihnen beifolgend mit einigen anderen Kleinigkeiten. Die „Anthropogenie“ habe ich Ihnen ja wohl bereits früher geschickt.

An Ihrem Schicksal, liebes Fräulein, nehme ich aufrichtigen Anteil. Ich begreife, daß bei Ihrer hohen künstlerischen Begabung, bei Ihrem lebhaften Interesse und Verständnis für wissenschaftliche feinere Bildung, Ihre jetzige provisorische Tätigkeit Ihnen wenig Freude macht. Aber solche Konflikte zwischen dem poetischen Idealismus einer feineren „Natur“ und dem praktischen Realismus der rauhen Wirklichkeit sind ja leider überall vorhanden. Man muß sich aber dem Geschick fügen! –

Mit wiederholtem Dank und Glückwunsch stets Ihr alter

Ernst Haeckel.

a eingef.: (, was ich dankend ablehnen muß!)

 

Letter metadata

Dating
03.01.1917
Place of origin
Country of origin
Possessing institution
EHA Jena
Signature
EHA Jena, A 31803
ID
31803