Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Carl Riess, Jena, 8. Mai 1919

Jena, 8. Mai 1919

Lieber Herr Riess!

Heute wurde ich durch Ihre gütige Fettsendung auf das angenehmste überrascht. Vielen herzlichen Dank! In der Hungersnot, die jetzt hier herrscht, ist der gänzliche Mangel an Fett aller Art (Butter, Speck, Schmalz, Schinken) einer der empfindlichsten Schäden! Wir lesen täglich in den Zeitungen von den schönen und reichen Fettsendungen, welche aus Amerika nach Hamburg und Bremen gebracht werden: – aber gesehen und wirklich bekommen haben wir von diesen ersehnten, für die Ernährung unseres omnivoren Primaten-Organismusa so wichtigen Nahrungsmitteln tatsächlich noch Nichts!

Mein Lebensmut und Arbeitskraft nehmen seit Beginn meines 86. Lebensjahres beständig ab. Ich kann nicht mehr ausgehen und leider auch nicht mehr produktiv arbeiten. Meistens liege ich auf dem Sopha und lese oder vertiefe mich in alte Erinnerungen. In den besseren Tagesstunden erfreue ich mich am Aquarellieren und führe alte Reiseskizzen auf. Aber zu wirklicher Lebensfreude und Hoffnung komme ich nicht mehr. Das trostlose Geschick unseres lieben armen Vaterlandes, über das am gestrigen Schicksalstage durch den Gewaltfrieden unserer Feinde in Versailles der Stab gebrochen wurde, deprimiert mich aufs tiefste! Ich sehe keinen glücklichen Ausweg aus dem Chaos, in welches uns die innere Zerrüttung unseres unpolitischen Volkes und der äussere Zwang der Feinde ringsum umgestürzt hat! Ich hoffe für mich den nächsten Winter nicht mehr zu erleben! –

Mit herzlichsten monistischen Grüssen an Sie und unsere Freunde in Hamburg treulichst Ihr alter

gez. Ernst Haeckel

a egh. eingef.: omnivoren Primaten-Organismus

 

Letter metadata

Recipient
Dating
08.05.1919
Place of origin
Country of origin
Possessing institution
Privatbesitz
ID
31799