Hertwig, Oscar

Oscar Hertwig an Ernst Haeckel, Zürich, 27. Mai 1869

Zürich d. 27ten Mai 1869.

Hochgeehrter Herr Professor!

Da Sie in Jena uns gegenüber immer so viel Freundlichkeit an den Tag gelegt haben, so ist es mir ein Bedürfniß Ihnen wissen zu lassen, wie es uns beiden an unserm neuen Studienorte gefällt.

Wir sind jetzt nahezu acht Wochen in der Schweiz und kann ich wohl sagen, daß alle die Wünsche und Hoffnungen, mit denen wir den weiten Ausflug angetreten haben, in Erfüllung gegangen sind. Zürich gefällt uns in jeder Beziehung recht gut. Zwar ist es nicht ein so traulicher und gemütlicher Ort, wie Jena, welches in dieser Beziehung wohl unübertroffen dasteht, dagegen bietet es uns schon als größere Stadt, wo sich so verschiedenartige Völker berühren und welche im Sommer so ungemein von Reisenden belebt ist, einen ausgedehnten Anschauungskreis dar. Mit den Schweizer Studenten haben wir || keinen näheren Umgang, obwohl wir mit mehreren derselben in demselben Hause wohnen und bei Tisch zusammen essen, theils, weil die Schweizer wenig gesellig sind und wenig gesellige Tugenden besitzen, theils weil sie sich als ein selbstständiges, den Deutschen gegenüberstehendes Volk betrachten und daher an ihrer barbarischen Sprache zäh festhalten, was im Umgang sehr störend ist; dagegen leben die deutschen Polytechniker, Preußen, Sachsen, Badenser und Oestreicher untereinander sehr gesellig. Sie haben einen deutschen Verein gegründet, der alle 14 Tage eine Versammlung abhält, auf welcher fast regelmäßig auch einige Professoren erscheinen. In diesem Vereine haben wir schnell und ohne Mühe Bekannte gefunden, was uns ohne dem in Zürich wohl nicht leicht gefallen wäre, da die medicinischen Collegs fast nur von Schweizern besucht werden und zu Bekanntschaften wenig Gelegenheit bieten.

In der Wahl eines Logis haben wir rechtes || Glück gehabt. Wir wohnen etwa 7 Minuten vom Polytechnicum, außerhalb der Stadt am Zürichberg in Oberstraß und genießen dadurch eine unbeschränkte Aussicht über die ganze Züricher Umgebung, über Stadt, See und Alpen.

Von den Professoren, an die Sie uns zu empfehlen so freundlich waren, sind wir mit Rath und That, wo wir dessen bedurften, unterstützt worden. Auch den Herrn Prof. Heer haben wir aufgesucht, obwohl wir sein Colleg über specielle Botanik nicht mit anhören, und haben uns von ihm die Erlaubniß erbeten, an den Excursionen, die er allsonnabendlich unternimmt, uns betheiligen zu dürfen. Unsere Hauptstütze, wie Sie uns das im voraus gesagt haben, ist Prof. Wislicenus, der hier allgemein sehr beliebt und angesehen ist. Er hat einen schönen klaren Vortrag und läßt uns seiner Vorlesung über organische Chemie, die wir bei ihm zusammen mit einem 10stündigen Curs im Laboratorium belegt haben, mit vielem Interesse folgen. Außer dieser Vorlesung hören wir noch den ersten Theil der allgemeinen Experimentalphysiologie bei Prof. Hermann und das || Colleg über Mineralogie bei Prof. Kenngott; sowie den einstündigen Vortrag des Prof. Kinkel im archäologischen Museum. Alle unsere Collegs liegen mit Ausnahme zweier Stunden des Morgens von 8–12 Uhr, so daß wir den Nachmittag zu unsrer freien Verfügung haben, eine Zeit die wir theils zum Repetiren, meist aber zu selbstgewählten Studien benutzen. So kömmt uns dieser Stundenplan für die eigene Arbeit, dann aber auch, dann aber auch, wenn wir einen kleineren Ausflug machen wollen, sehr zu Statten.

Mit der in Aussicht genommenen Tour an die italienischen Seen zu Pfingsten ist es nichts geworden, da hier nur an den Feiertagen nicht gelesen wird. Dagegen haben wir eine recht gelungene Parthie auf 5 Tage nach Graubünden ausgeführt, wo wir die Via mala, das wilde Averserthal, das Engadin von Silvaplana bis Samaden, Tiefenkasten und die Taminaschlucht bei Bad Ragatz besucht und das 8000‘ hohe Stätzerhorn, allerdings bei etwas nebliger Aussicht erstiegen haben.

Indem ich die herzlichsten Grüße von meinem Bruder an Sie ausrichte und Sie bitte uns Ihrer Frau Gemahlin zu empfehlen, bleibe ich

hochachtungsvoll

Ihr

Oscar Hertwig.

 

Letter metadata

Recipient
Dating
27.05.1869
Place of origin
Country of origin
Possessing institution
EHA Jena
Signature
EHA Jena, A 30355
ID
30355