Hartmann, Eduard von

Eduard von Hartmann an Ernst Haeckel, Berlin, 24. Februar 1875

Berlin den 24.2.1875.

Hochgeehrter Herr Professor!

Schon längst hätte ich Ihr werthes Schreiben vom 8. December beantwortet, wenn ich nicht von Monat zu Monat gehofft hätte, Ihnen den Artikel der Rundschau beifügen zu können, dessen Erscheinen Rodenberg anfangs für das Januar-Heft in Aussicht genommen. Eine nunmehrige schriftliche Anfrage unterrichtet mich, daß derselbe zwar bestimmt noch in diesem Frühjahr herauskommen soll, aber wohl kaum für das Märzheft mehr zu erwarten steht. So will ich denn nicht länger zögern, meiner Streifbandsendung des „transcendentalen Realismus“ u. des „Darwinismus“ diese Zeilen als Anschreiben folgen zu lassen. || In ersterer Schrift bitte ich außer der Vorrede die S.90–96 gefälligst beachten zu wollen; die letztere wird gerade für Ihre Beurteilung erst in dem Artikel der Rundschau ihre Ergänzung erhalten, da in letzterem das Verhältniß von Naturwissenschaft und Naturphilosophie zur genaueren Erörterung gelangt ist.

Wiesner’s „Atom“, auf welches Sie mich aufmerksam gemacht haben, habe ich gelesen. Viel ansprechendea Frische im Anfang und Schluß, aber jugendliche Überstürzung und Mangel an kritischer Ruhe und Besonnenheit. Der eigentliche mittlere Theil scheint mir ganz schwach in seinen Argumentationen, und ich glaube nicht, daß die exacte Wissenschaft ernsthaft von der Arbeit Notiz nehmen wird. || Dagegen bin ich durch Wiesner auf Pfeilsticker’s „Kinetsystem“ geführt worden. Dieser hat gerade, was jenem fehlt. Seine Behauptung der Durchdringlichkeit der Atome ist absolut richtig, und seine Folgerung von der Unmöglichkeit der Vereinigung getrennter Attractionscentren schlechthin unbestreitbar. Dagegen scheint mir zur Begründung seiner Elimination der abstoßenden Kräfte noch sehr viel, wo nicht alles zu fehlen. Möglicherweise aber bringt Pfeilsticker eine völlige Revolution in der Molecularphysik hervor, wenn er sein System allseitig ausführt.

Ich weiß nicht, ob Ihnen der schmutzige Angriff gegen mich bekannt geworden, den Klein im Septemberheft || seiner „Gäa“ aus der „Grazer Tagespost“ abgedruckt hat. Auch Ihr Name ist darin, als einer derer erwähnt die sich von mir hätten düpiren lassen. Die alberne Bestechungsgeschichte meines Verlegers hat Klein im 1sten Heft dieses Jahrganges widerrufen. Gegen die „Grazer Tagespost“ schwebt wegen der Sache ein Presseproceß. Es ist mir unerklärlich, wie KIein durch die Polemik Venetianers in dessen „Allgeist“ sich gegen mich so hat aufbringen lassen können, um ein naturwissenschaftliches Journal mit solchen persönlichenb Verläumdungen und Gemeinheiten*) zu beschmutzen, über die selbst der abwesende Chefredakteur der Grazer Tagespost sich geschämt und einen Entschuldigungsbrief an meinen Verleger geschrieben hat. – Mit hochachtungsvollem Gruß

Ihr ganz ergebenster

E.v.Hartmann.

*) Der Urheber und Verbreiter derselben ist beiläufig derselbe Dühring, der jetzt wegen seines Skandals gegen Professor Wagner von der Berliner Universität entfernt werden soll.

a eingef.: ansprechende; b eingef.: persönlichen

 

Letter metadata

Recipient
Dating
24.02.1875
Place of origin
Country of origin
Possessing institution
EHA Jena
Signature
EHA Jena, A 30200
ID
30200