Walther May an Ernst Haeckel, Karlsruhe, 15. Februar 1903
Karlsruhe, 15. Febr. 03.
Hochgeehrter Herr Professor!
Auch diesmal erlaube ich mir, Ihnen meine ergebensten Wünsche zu Ihrem Geburtstage zu übersenden. Möchten Ihnen noch viele Jahre gedeihlicher Arbeit beschieden sein.
Ich bin diesen Winter außerordentlich in Anspruch genommen worden, hauptsächlich durch zahlreiche Vorträge in verschiedenen Vereinen. So halte ich augenblicklich || einen Cyklus von Vorträgen über Darwins Leben u. Lehre im hiesigen Volksbildungsverein. Als ich neulich in Pforzheim einen Vortrag hielt legte ich auch einige Blätter Ihrer Kunstformen vor, und die dortigen Bijouteriearbeiter waren ganz entzückt davon und hielten die Vorlagen für ausgezeichnete Modelle, an denen sie oft Mangel hätten.
Vorigen Sommer war ich mehrere Wochen in England „auf Darwinspuren“, besuchte London, Down, Cambridge, Lichfield, Derby, Shrewsbury u. denke vielleicht etwas darüber zu veröffentlichen, || sobald es meine Zeit erlaubt Was sagen Sie zu dem neusten Jammerbuch von Fleischmann? Man traut seinen Augen nicht, wenn man liest, daß „die Behauptung, der Gedanke der Descendenz u. Selektion habe sehr anregend gewirkt etc. ein Euphemismus sei, den der menschliche Geist gebildet habe, um seine Fehler vor sich und anderen zu entschuldigen“. Ein größerer Blödsinn ist wohl nie geschrieben worden!
Ich schließe mit den ergebensten Grüßen als
Ihr dankbarer Schüler
W. May.