Finsterbusch, Ludwig

Ludwig Finsterbusch an Ernst Haeckel, Hagen, 8./9. Dezember 1861

Hagen am 8. December 1861.

Mein lieber Ernst!

Ich benutze die Gelegenheit meinen bescheidenen Bewillkommnungsgruß dem stürmischen Empfange von Seiten Deines Bräutchens und dem warmen von Seiten Deiner Eltern anzuhängen. Also vergnügte Weihnachten und ein frohes Neujahr, alter Junge, ein Neujahr, das einzig in Deiner Geschichte, vorläufig noch in Deinem Leben dasteht, d.h. Absolvirung der See-bestien, so man Radiolarien nennt, Vollendung des Druckes, möglichst wenig Krakehl mit giftigen Amphibien, so man Recensenten nennt (nimm mich dazu!) – Erstürmung einer Batterie (à propos wie geht es eigentlich Gottfried v. Düring? Anmerkung: Diese Frage soll keine indirecte Aufforderung sein an mich zu schreiben; gut Du lachst; ich setze aber ernsthaft hinzu: Deine Zeit gehört den Radiolariis oder wie die Dinger heißen), also Erstürmung einer a Professur und dann lustig in den Ehestand hinein.

Trotz Deiner massenhaften Arbeit hast Du Dich abgemüssigt, mir so ausführlich zu schreiben und mich um speciellere Detaillirung meiner Braut gebeten. Wenn ich darauf noch nicht geantwortet habe, so lag das zum Theil in der Rücksicht auf Deine Arbeit, aber || noch mal mehr in meiner Rathlosigkeit Deinen Wunsch zu erfüllen. Liebster Jungeb, wenn ich Dir nun schreibe, daß sie ganz prächtig Klavier spielt, und daß sie ebenso versteht, deliciöse Westphälische Kartoffelpfannkuchen zu backen, wie andrerseits sich die Kleider selber zu fertigen, daß sie eine gehorsame Tochter ihrer Mutter, (der Vater, Gerichtsrath, ist schon seit 10 Jahren todt), ihrer jüngern Schwester, die nach ihrer Konfirmation Ostern 1863 bei mir in Pension kommen soll, so wie ihren beiden Brüdern, von denen der eine als candid. theologiae jetzt in Paris in der luther. Mission des jungen Bodelschwingh, der andere Secundaner ist, eine liebende Schwester, aber was die Hauptsache ist, daß sie mir eine heiß geliebte Braut ist, zu der mir beinahe halb Herford gratulirt hat (keine Übertreibung, die liebe ich nicht! immer die reine Wahrheit, wie sie einerseits die Kreuzzeitung, andrerseits die Volkszeitung redlich pflegt oder traktiret), wenn ich ferner sage, daß sie etwas Geld hat, um das Schulmeistergehalt etwas zu erhöhen ohne entsprechende Vermehrung der Arbeit, daß sie an und für sich eine stattliche Figur macht, aber neben mir gesehen gerade so groß ist als ich (woraus noch lange nicht folgt, daß ich auch eine stattliche Figur mache), daß ich endlich nicht begreife, warum sie sich glücklich preist, einen armen, lahmen Schulmeister glücklich zu machen, so dürfte das Wissenswürdige erschöpft sein, aber sicherlich auch Deine Geduld. || Ferner ist sie fast blond, mit blauen Augen, hat also einige Ähnlichkeiten mit dem Verfasser der Radiolarien, und – item Du siehst, ich bin dem Thema in keiner Weise gewachsen! Komm und siehe. Frage mein Herz, nicht meinen Kopf, lausche dem Jubel meines Herzens, nicht dem Gekritzel der Feder. – Deine Lobsprüche über meine vollendetere Beherrschung des Stoffes kann ich nicht beantworten, so lange Du mir nicht Deine Definition von „Stoff“ giebst, denn mit Gelehrten Deines schweren Kalibers nehme ich keinen Streit auf ohne gehörige Prüfung der Geschütze, resp. ihre Kugelweite und Tragweite.

Deine Nachrichten über Deine Thätigkeit, Umgang und Naturkneiperei (Italien bei Nacht, oder von hinten angesehen, wenn Du Dich noch Deines Briefes solltest erinnern können, was ich bezweifle) in Jena haben mich erfreut, resp. erheitert. Du hast Dir ein allerliebstes Nest ausgesucht, und ich werde nicht verfehlen, Dich dort als junges Ehepaar c Erklärung. d „als junges Ehepaar“ bezieht sich nicht auf das Subject „ich“, sondern auf das Object „dich.“ Am besten wird es auf Beides bezogen per attractionem! einmal aufzusuchen.

Zum Ersatz einige Notizen über meine Schulmeisterei. An unserer Schule existiren ausgesucht schlechte collegialische Verhältnisse und gehört eine gesunde, gut verdauende Constitution dazu, um den Humor nicht zu verlieren. Behält man aber den, so kann man prächtige Studien über gewisse Menschengattungen machen und außerordentlich für den Geschäftsverkehr lernen. In der That habe ich in den 13 Monaten hier in Hagen in || dieser Beziehung mehr gelernt, als voraussichtlich in Merseburg in 10 Jahren. Denn obgleich die collegialischen Verhältnisse in Merseburg schlecht genug sind, so hat man doch da gar keine Ahnung von dem, was eigentliche Conferenzen sind. Sieh, lieber Ernst, das ahnst Du auch unter Deinen Radiolarien nicht (womit ich wiederum nicht gesagt haben will, daß Deine Existenzweise nicht eine charmante ist, indeß zum Hagener Schulmeister würdest Du Dich nicht recht eignen). Sapienti sat! – Die Wahl ging hier ebenfalls mit einiger Aufregung vor sich, jedoch war die Wahl Harkorts und Vinckeʼs so gut wie sicher. Letzterer nimmt kein Mandat an, deshalb wurde sein persönlicher Freund, Rechtsanwalt Gerstein gewählt; ersterer (Harkort) hat eine Broschüre über die deutsche Flotte geschrieben, die vorzüglich recht ins Detail eingeht.

Michaeli war ich natürlich in Herford. Von da habe ich auch unsern lieben Gandtner in Mindene besucht, der sichʼs schon recht behaglich in der Director-Wohnung gemacht hatte. Er ist ganz der alte f wohlwollende Mann, wie ich ihn in Merseburg so gerne hatte, und wie ich ihn zum vorletzten Male in Greifswalde sah. Auch unsern Hiecke sah ich, in einer Photographie, aber, du lieber Gott, hat der liebe, braver Mann gealtert seit den letzten 5 Jahren. Die ernsten, geistigen Züge seines Gesichtes, die mich in Merseburg so fesselten, schauten mich schon wie verklärt an, und ich konnte eine heimliche Thräne nicht unterdrücken. So vergeht alles Irdische. Leb wohl, mein lieber Ernst.

Dein Ludwig. ||

Lieber Ernst! Bevor ich den Brief absende, fragte ich Hetzer ob er an Dich etwas zu berichten hätte und erfuhr dann, daß er noch immer den von Dir gewünschten Reisebrief in Händen hätte. Ich habe ihn mir geben lassen und schicke ihn denn hiermit nach Berlin, da es ja nach so langem Warten schließlich nicht auf 14 Tage ankommt, die Du ihn durch Separat-Übersendung nach Jena früher bekommen würdest. Ein Theil Deines Briefes war mir aus dem gedruckten Vortrage in der geographischen Gesellschaft, ein anderer aus Erzählungen Osterwalds in Merseburg, noch anderes aus Originalbriefen und Erzählungen Deiner Frau Mutter während meines Aufenthaltes Ostern 1861 in Berlin bekannt. Trotzdem habe ich mich an der Lectüre herrlich ergötzt und geht deshalb mein Brief einen Tag später ab.

Hagen den 9. Dec. 61

Dein Ludwig

Grüße von Hetzer! der bereits seit April verheirathet ist mit der Tochter des Kaufmann Peckott in Merseburg.

a gestr.: Bat; b korr. aus: Junger; c Einfügung am unteren Seitenrand, markiert mit zwei Kreuzen: Erklärung. … per attractionem!; d gestr.: Ju; e eingef.: in Minden; f gestr.: lie

 

Letter metadata

Recipient
Dating
09.12.1861
Place of origin
Country of origin
Possessing institution
EHA Jena
Signature
A 2324
ID
2324