Finsterbusch, Ludwig

Ludwig Finsterbusch an Carl Gottlob Haeckel, Wustrow, 28. April 1857

Wustrow bei Neu-Buckow den 28. April 1857.

Hochgeehrtester Herr!

Ich fühle mit tiefer Scham, daß ich mich in Ihren Augen und Ernst gegenüber durch mein langes Schweigen als Undankbarer prostituirt habe und bitte deshalb um Verzeihung. Daß ich außer dem einzigen Briefe aus Mecklenburg nichts habe von mir hören lassen, kommt daher, weil ich bald nach meinem Schreiben gewahr wurde, sehr verkehrte Ansichten über diea hiesigen Zustände mir gebildet und in dem Briefe dargestellt zu haben. Nie aus dem Regierungsbezirke Merseburg herausgekommen, aufgewachsen unter den Verhältnissen, welche aus der Parzellirung des Bodens und der Vermischung von Stadt und Land hervorgehen, waren mir anfangs die hiesigen Zustände mindestens böhmische Dörfer; je mehr ich alsdann darüber mich unterrichtete, um so imponirender traten sie mir durch die Consequenz, Zähigkeit und reine geschichtliche Entwickelung entgegen. |

Ich legte einen durchaus falschen Maaßstab an, da ich einen schiefen Vergleich zwischen unsern Tagelöhnern und Fabrikarbeitern und den Mecklenburgischen Tagelöhnern zog; während letztere nach dem Verhältnisse der Bevölkerung mit unsern Kleinbauern verglichen werden müssen. Alsdann genügen aber nach meiner Ansicht weder die Ansichten der National-ökonomen noch die eines Riehl in seiner Naturgeschichte des Volkes, um die Zustände der hiesigen Tagelöhner zu rechtfertigen. Gedenkt man dazu der merkwürdigen Heimathsgesetze, der fast an Souveränität grenzenden Macht der Ritterschaft und des Erbvergleichs von 1755, so wird man wohl von der Lobrede auf dies Ländchen der „Erbweisheit“, wie es ein Geschichtsschreiber Mecklenburgs nennt, zurückkommen.

Ähnlich erging es mir mit den kirchlichen Verhältnissen. Im Laufe meiner Studien auf dem Standpunkte des Radicalismus angekommen, neigte ich mich bereits in Folge der notwendigen Unbehaglichkeit der Orthodoxie zu; aber wie ist die Orthodoxie in Sachsen beschaffen, so weit ich sie hatte kennen lernen? Ein wahres Janusgesicht. Hier fand ich zu wenigstens eine meinungsfeste, kirchliche Geistlichkeit, die Ernst mit ihrer | Überzeugung macht und in norddeutscher Derbheit sich ausspricht und geltend macht. Was Wunder, wenn ich in meiner Einsamkeit, in meiner wissenschaftlichen Isolirung den Einflüssen der Umgebung nachgab. Ich habe mich jetzt losgerungen; ich habe die beiden Extreme durchgemacht und habe b festen Fuß gefasst, von dem mich nie irgend ein Einfluß abbringen wird und soll. Dies zur Begründung der Bitte um Verzeihung. Es soll mir aber noch mehr zur Erfüllung einer andern Bitte verhelfen, nämlich ich wünschte die Adresse von Ernst, ich sehne mich nach Correspondenz mit Altersgenossen, mit denen ich auf gleichem Standpunkte der Ansichten stehe oder zu stehen hoffe. Auf der Universität habe ich das so geringe und doch für mich so kostbare Glück gehabt, eine einzige jede Trennung in Bezug auf Raum und Zeit überdauernde, eine einzige ewige Freundschaft zu schließen, mit einem Juristen, der jetzt in Marienwerder sich aufhält. Aber ich sehne mich nach mehr. Die Freundschaft zwischen Ernst und mir ist in den Kinderschuhen stecken geblieben; ich mag nicht befürchten, daß dies ihr einziger Zweck war. Ich bitte noch einmal um die Adresse von Ernst.

Schließlich erlauben Sie mir, hochgeehrtester Herr, noch einige Bemerkungen über meine Verhältnisse. Ich figurire immer noch als Hauslehrer, weil mir eine | Thätigkeit am Gymnasium nicht zusagt, da ich das Prinzip der Gymnasialeinrichtungen als überlebt ansehe. Sie werden wenigstens fragen, ob ich mich als Hauslehrer in Mecklenburg wohl fühle? Jetzt allerdings. Ich habe nämlich das adelige Haus verlassen, und bin nur eine Meile weit von dem frühern Orte anderweitig engagirt. Sie werden sich eines Stever erinnern, der 1848 unter den Vertrauensmännern der Regierung an den Bundestag von hier ausgesandt, im selbigen Jahre in Schwerin das Ministerium des Innern übernahm, aber Angesichts des Umsturzes der Verfassung abging und seitdem als Staatsrath a. D. auf seinem Gute Wustrow bei Neu-Buckow lebte. Von genanntem Herrn bin ich für sein einziges Söhnchen von 7 Jahren mit 250 Thaler Gehalt und Aussicht auf allmählige Erhöhung engagirt. Leider starb er am 30. Januar dieses Jahres, indem er auf der Jagd verunglückte, die Kugel eines sich selbst entladenden Gewehrs durchbohrte bei einem Falle seine Brust. Nur dreimal habe ich mit ihm einen Nachmittag zuzubringen das Glück gehabt, aber es genügte, um die höchste Achtung, ja anfängliche Liebe für ihn in mir zu erwecken. An seinem Sarge trauernd habe ich mir gelobt, seinen für mich letzten Willen betreffs seines Sohnes mit allen Kräften zu erfüllen. Die Wittwe, die 30 Jahre angehend, ist eine sehr gebildete, um nicht zu sagen gelehrte Dame, die mir eine über meine Erwartungen gehende Aufnahme gewährt hat. Außer dem Knaben gebe ich 2 sehr befähigten Mädchen von 13 und 11 Jahren einigen wißenschaftlichen Unterricht. Ich fühle mich in diesem Hause glücklich, ich kann sagen heimisch.

Ich bitte noch einmal um die Adresse.

Mit der größten Hochachtung

Ew. Hochwohgeborenen [!]

gehorsamer Finsterbusch.

a korr. aus: dis; b gestr.: mir

 

Letter metadata

Dating
28.04.1857
Place of origin
Country of origin
Possessing institution
EHA Jena
Signature
EHA Jena, A 2317
ID
2317