Focke, Wilhelm Olbers

Wilhelm Olbers Focke an Ernst Haeckel, Bremen, 14. Februar 1917

Stein. Kreuz 5, Bremen, 14 Febr. 17.

Lieber alter Freund!

Zum Beginn eines neuen Lebensjahres möchte ich Dir meine besten und herzlichen Wünsche senden – man scheut sich heutzutage fast von Glückwünschen zu reden. Aber es giebt doch noch immer vieles, was man wünschen kann, für Angehörige und Freunde, für’s Vaterland und schließlich auch für sich selbst. In früheren Jahren, wenn die Zeit in Arbeit und Geschäftigkeit dahineilt, kommt man nicht immer dazu, an Erinnerungstage zu denken. Jetzt ist man unter Jugendfreunden und Verwandten aus der Jugendzeit vereinsamt, man lebt mit einem neuen, einem jüngeren Geschlechte, aber man kann das in alter Zeit erworbene Wesen nicht ändern. Immerhin darf ich noch wohl meine Wünsche für Dich in ein Glückauf zusammenfassen; es bleibt auch für die Alten, so lange sie athmen, ein Gutes || und ein Schlechtes, einen positiven und einen negativen Pol des Daseins – „wer nicht mehr liebt und nicht mehr irrt, der lasse sich begraben.“

Den ersten Frühling einer Friedenszeit möchte ich noch erleben, gebe mich aber allerdings nicht dem Wahne hin, daß dann Alles gut und rosig erscheinen könnte. Ich habe früher manchmal Anlaß gehabt, mich mit 1813 und 1815 zu beschäftigen – es gab damals recht viele Verhältnisse und Zustände, die durchaus nicht gut und erfreulich waren, aber im Großen und Ganzen ging es doch vorwärts, es gab neben dem Schlechten Vieles, was man rühmen könnte. Der Riß zwischen den geistigen Führern der Völker, den Vertretern der Wissenschaft, war allerdings nicht so tief wie er jetzt zu sein scheint. Wie sich diese Kluft ausgleichen wird, kann ich mir noch nicht recht vorstellen. Manchmal lege ich mir die Frage vor, ob wir diese Zeit überhaupt mit der Napoleonischen vergleichen dürfen, ob sie nicht vielmehr der Anfang eines Völkerwanderungszeitalters ist.

Es ist mir schwer, jetzt, wo Alles für das öffentliche Wohl arbeiten muß, still zu sitzen, aber ich finde keine Tätigkeit mehr, die für mich paßt. Selbst das wissenschaftliche Schriftstellern, || das ich zuweilen noch versucht habe, will nicht mehr gedeihen oder bleibt doch minderwertig. Im Alter wird man einfacher Zuschauer der Weltereignisse wie in der Kindheit.

Im Felde habe ich jetzt von den Meinigen zwei ärztliche Schwiegersöhne und einen Enkel als jungen Soldaten.

Selbst die einfachsten Zukunftspläne kann man jetzt nicht mehr machen, man fragt sich immer nur, was die nächste Zeit bringen wird.

Impavidi progrediamur!

Alles Gute für Dich und die Deinigen hofft

Dein W. O. Focke

in alter Freundschaft!

 

Letter metadata

Recipient
Dating
14.02.1917
Place of origin
Country of origin
Possessing institution
EHA Jena
Signature
EHA Jena, A 1915
ID
1915