Focke, Wilhelm Olbers

Wilhelm Olbers Focke an Ernst Haeckel, Bremen, 18. Januar 1907

Stein. Kreuz 5, Bremen,

18. Jan. 07.

Lieber alter Freund!

Der Jahreswechsel giebt Anlass, sich In der Welt umzuschauen, in der die Reihen unserer Altersgenossen sich schon bedenklich gelichtet haben. Als einem der Wenigen, die ich schon länger als ein halbes Jahrhundert kenne, möchte ich Dir heute einen herzlichen Gruss senden. Mit den meisten andern, die ich noch in der eigentlichen beruflosen Jugendzeit gekannt habe, ist mir seit Jahrzehnten jede Fühlung verloren gegangen. Nur mit meinen alten Schulfreunden Kottmeier und Dreier, mit denen ich nächstens gemeinsam das Doktorjubiläum zu feiern hoffe, bin ich dauernd in engem Zusammenhang geblieben. Sechs Wochen später wirst Du ja auch || die Jubelgreiswürde erlangen. Ist eine Feier des Tages geplant? Ein Kranz ist gar viel leichter binden, als ihm ein würdig Haupt zu finden – das Angebot der Festfeierbedürftigen ist gewöhnlich viel grösser als die Nachfrage seitens der brauchbaren Mittelpunkte für solche Feiern.

Deine Wanderbilder haben mir viel Freude gemacht, das transcendental-philosophische Gebiet bleibt mir dagegen verschlossen. Die grossartigen neuen physikalischen Anschauungen stützen sich auf feste Tatsachen, über deren richtige Deutung man ja immerhin streiten mag; ebenso lässt sich darüber diskutieren, ob z. B. die embryologischen Tatsachen wirklich die ihnen zugeschriebene Bedeutung für die Entwickelungslehre haben. Bei solchen Erörterungen geht man mindestens von klaren Vorstellungen aus; wir wissen wirklich, was wir sagen. Aber bei den transcen-||dentalen Fragen fehlt es vollständig an zuverlässigen Begriffen. „Wie Einer ist, so ist sein Gott“, und selbst der Kirchengott ist nichts weniger als ein einheitliches Wesen; in der Genesis lustwandelt er in der Kühle des Abends im Garten, später ist er als Nationalgott Israels tätig, a aber wirklich vergeistigt erscheint er erst bei Jesus. Ebenso verschieden verhält es sich mit der Unsterblichkeit, mit den handfesten spiritistischen Klopfgeistern, den verklärten Seelen der ehrlich Frommen, den auf der Seelenwanderung begriffenen, einer ewigen Vervollkommnung und schliesslich dem Nirvana, der Entropie, zustrebenden Geistern der indischen Religionen. – Begriffe fehlen und wenn man solche Begriffe festzustellen sucht, um sie fassbar bekämpfen zu können, werden die Gegner stets sagen, dass sie fälschlich untergeschoben sind. ||

lch denke, wir können uns damit begnügen, wenn Gedankenfreiheit besteht. Das Pfaffentum ist nun einmal mit unserer ganzen Kulturentwickelung so eng verbunden, dass eine Rückbildung desselben viele Generationen erfordern wird. Schliesslich mag es einmal ein historisch interessantes functionsloses Gebilde werden – aber das ist noch lange hin.

Krabbe erinnerte mich neulich daran, dass wir in diesem Jahre auch das Halbhundertjubiläum unseres Wiener Sommers feiern können – tempora mutantur!

In nächster Woche steht mir ausser der Doktorfeier auch die Hochzeit meines Sohnes in Aussicht; er geht mit seiner jungen Frau wieder nach China. Allerlei Nebenfeiern knüpfen sich an diese Feste an. – Dann kommt wohl etwas Ruhe, allerdings nur relative – nun, wer nicht mehr liebt und nicht mehr irrt, der lasse sich begraben. Ein Lebensinhalt von Spazierengehen, Skat und Zigarrenrauchen passt nicht für uns.

Mit herzlichem Grusse

Dein W. O. Focke.

a gestr.: und

 

Letter metadata

Recipient
Dating
18.01.1907
Place of origin
Country of origin
Possessing institution
EHA Jena
Signature
EHA Jena, A 1885
ID
1885