Weiß, Ernst

Ernst Weiß an Ernst Haeckel, Berlin, 18. März [1858]

Lieber Ernst!

Meinen herzlichsten Glückwunsch zu Deiner Metamorphose, die gestern glücklich von Statten oder vielmehr zu Ende gegangen ist. Ich glaube, Du wirst nun Allen den höhern würdigen Eindruck eines jung gekrönten Dr. u. vollendeten Arzt, Wundarzt u. Geburtshelfer machen.

Und nun hiezu die für mich traurige Nachricht, daß ich mich in der Nothwendigkeit befinde, an Deinem Freuden- und Jubelfeste heute Abend nicht Theil nehmen zu können. Ich will Dir die wahre Ursache sagen, aber in dem Vertrauen, daß Du sie für Dich behältst, da ich Niemand sonst etwas gesagt habe. Ich befinde mich in der Examen-Woche. Auch Du würdest dies, ohne diese Veranlassung, nicht erfahren haben; ich denke aber, es ist besser, Du weißt das Rechte, statt daß ich eine Nothlüge erfinde. Tante hat durch mich nichts gehört. Sonnabend Abend geht es zu Ende, wahrscheinlich spät. Heute habe ich die zweite Probelektion gehalten, ich denke besser als die erste, bei der ich entschieden Pech hatte, nämlich heut über Gold (Prima)a, neulich über Flußfische (Unter-Sekunda). ||

Nun Deiner neuen Eigenschaft eine Frage: was vertreibt Kopfschmerzen am besten (an denen ich schon die ganze Woche u. früher laborirte), NaC2 u. C4H2O5 + HO?

Immer

Der kleine Weiß.

Berlin d. 18/3.

Du bist so gut u. giebst die beifolgende Notiz an Hartmann oder falls dieser nicht dasein sollte, an Martens.

[Beilage]

Herrn Dr. Hartmann. ||

Folgendes, bitte ich, falls es sich grade passt, als Toast zu lesen.

Weiß.

Entwicklung, Metamorphose ist jetzt das Losungswort der organisch naturforschenden Welt. Auch hier ist kürzlich eine Metamorphose glücklich u. vielversprechend vor sich gegangen. Ein neu Entpuppter sitzt (steht?) dort vor uns, und wenn wir recht berichtet sind, so betrachtet der junge Vogel diese Enthüllung nicht für das Edndziel seiner Verwandlungen. [Leerstelle] Schon ehe die Schaale durchbrochen war, durchwogten kühne entwicklungslustige Ideen seinen Kopf, Ideen, die grade nicht ganz embryonal zu nennen waren. Was wird da vollends später werden? Ich fürchte, er fliegt uns unter den Händen davon, denn er scheint schon flügge geboren. – [Leerstelle] Auch recht verständig ist er zur Welt gekommen: das Buchstabiren wenigstens macht ihm keine Mühe. Denn so, dünkt ihm, geht die Reise:

Nach M, der Metamorphose, folgt bekanntlich N, das ist natürlich Nizza oder Neapel; nach N kommt O, wahrscheinlich Ostindien oder doch ein Ocean; sind aber N und O durchflogen, so rathe ich: kehr heim zu P ins Joch des Privatdocenten und hoffentlich bald Professors. – [Leerstelle] Mögen die polymorphen Zustände hier ein Ende haben oder nicht, Eins wird nicht veränderlich sein: er wird auch ferner die b Freude c seiner Eltern bleiben und wir bitten, er möge sich später der Freunde freundschaftlich erinnern. ||

Drum sage ich d:

Das Buchstabiren soll leben

und die Metamorphose daneben!

a eingef.: (Prima); b gestr.: Quelle der; c gestr.: für; d gestr.: kurz

 

Letter metadata

Author
Recipient
Dating
18.03.1858
Place of origin
Country of origin
Possessing institution
EHA Jena
Signature
A 16648
ID
16648