Weiß, Ernst

Ernst Weiß an Ernst Haeckel, Berlin, 19. Januar 1856

Berlin d. 19ten Januar 1856.

Mein lieber alter Häckel!

Obschon es nicht mehr sehr früh ist, sollte ich Dir doch lieber jetzt noch nicht schreiben, um mehr Zeit abzuwarten, als ich gegenwärtig habe; denn Dein Brief, wie die ihn begleitenden Geschenke, die mich mehr erfreut haben, als ich Dir sagen kann, verdienten wohl eine ausführlichere Antwort, als ich augenblicklich zu geben im Stande bin. Hab’ herzlichen Dank für Deine so überaus freundschaftliche Aufmerksamkeit, der ich ordentlich beschämt gegenüber stehe, da ich sie nicht nur nicht erwidert habe, sondern auch, indem ich fast schon 3 Wochen seit Empfang jener Boten von Dir habe verstreichen lassen, beinah gleichgültig scheinen könnte. Nun, wie es mit Letzterem steht, wirst Du Dir wohl denken, oder wirst doch von Richtigem überzeugt sein, wenn ich Dir sage, daß allerdings Humboldts „Ansichten“ mir seit der Zeit, wo ich noch mit Dir altem Jungen eine Stube theilte u. Du mir bisweilen Dein Exemplar (wenn ich nicht irre, das nämliche, das Du mir jetzt schickst u. das daher doppelten Werth für mich hat) borgen mußtest, Gegenstand theils des Wunsches, theils auch der wirklichen Lektüre geblieben ist u. daß ich mich grade jetzt wieder daran erfreue. In Halle waren es namentlich Zeiten des Katzenjammers, die mir es so lieb machten, || gegenwärtig, wo jene schlimmsten Perioden (– hoffentlich! –) überwunden sind, ist es wirklich ein noch höherer Genuß; denn man befindet sich in einer größeren Fähigkeit, auch den Verstand zu gebrauchen. – Und die prächtigen Alpenkinder! Das ist freilich eine andere Flora als bei uns im Norden, wiewohl grade in denen, die Du mir schickst, ein gewisser größerer Anklang an jene Formen, die wir die heimischen nennen, liegt. Ich habe Dir im letzten Jahre meine antibotanische Umwandlung zwar versichert u. geschildert; doch davor bewahre mich die reiche Flora selbsta, daß ich mich nicht stets an ihren Kindern herzlich erfreuen sollte, wenn ich auch jener frühern Wuth entronnen zu sein glaube, sie so zahlreich als möglich zu sammeln u. zu dörren, um sie später nicht wieder anzusehen. Freilich wohl hast Du Rechtb; man spricht so lange so kalt, als man sich nochc außerhalb der herrlichen Wunderwelt befindet; wie es mit mir in den Alpen selbst aussehen möchte u. ob mich da nicht die alte Wuth u. Liebe wieder überrumpeln würde, das lasse ich dahingestellt sein. Vorläufig werde ich nicht Gelegenheit haben, mich überrumpeln zu lassen. Übrigens nächstens werde ich doch mich veranlaßt fühlen, mein eingepacktes Herbarium aus seinem Winterschlafe aufzustören; da ich zu tauschen beginnen will, um nur Sachen los zu werden. Kürzlich nämlich habe ich durch Richthoffen d die Bekanntschaft einiger hiesiger Botaniker gemacht, u. wir wollen uns gegenseitig mit unsern Schätzen beglücken.

Du frägst mich, wie mir Deine hiesigen Freunde, als Lachmann etc. gefallen, indem Du natürlich voraussetzt, daß ich sie recht ordent-||lich kennen gelernt habe. Aber es ist leider nicht so; der einzige fast e ist Richthoffen, mit dem ich öfter zusammengekommen bin u. der mir ganz vortrefflich, besonders seines anspruchslosen, natürlichen Wesens halber, f bei aller Bildung, worin ich mich ihm nicht vergleichen kann, gefällt. Mit den Heins oder Lachmann bin ich kaum einige Male zusammengetroffen, was mir zwar leid thut, wenn auch sie, natürlicher Weise, ihre Bekanntschaften nicht auszudehnen sich bewogen fühlen. Daß mir ein rechter Freund fehlt, das ist, was mich mitunter traurig stimmt, zumal in der letzten Zeit, wo ich mich in dem Stadium eines Übergangs befinde, so zu sagen. Ich meine nämlich die Beziehung auf Bekanntschaften. Denn ich war, was ich Dir kaum gestehen möchte, im vergangenen Vierteljahre in eine Bande von sogen. Bekannten hineingerathen, die ich, nachdem ich sie so recht kennen gelernt habe, nun entschieden abzustreifen begonnen habe. Doch wozu dies erzählen. Du kannst Dir denken, daß die Lücke, welche ich vorher ausgefüllt glaubte, jetzt mitunter mir ungewöhnlich fühlbar wird, nämlich derg Mangel eines gemüthlichen freundschaftlichen Kreises, in dem man sich behaglich fühlt, weil man befreundete Gesinnungen in denen sieht, die den Kreis bilden; vorzüglich aber eines wahren Freundes, der nicht sowohl die eignen Gesinnungen theilt, als vielmehr den Freund durch u. durch kennt u. zu schätzen, zu lieben weiß. Ich stelle nicht einmal die Forderung, daß die beiderseitigen Gesinnungen ganz u. durchaus gleich u. ohne Abweichung sein müßten; das wäre zu ideal, um möglich zu sein. Aber in den Prinzipien, in dem Strebenh || sich an gleichen Grundansichten weiter zu bilden, darin freilich muß ein solcher Freund wesentlich harmonisch gestimmt sein. Daß ohne dies wohl ein bekanntschaftlicher Verkehr, aber keine rechte Freundschaft stattfinden kann, das hast Du selbst, wie Du mir schreibst, erfahren. Gewisser Maaßen beneide ich Dich um Deine Disputationen, die Du mit Deinen Würzburger Freunden gehalten hast, wenn sie auch nicht sehr angenehm für Dich ausgefallen sind; denn grade solche Kämpfe sind es, die zur möglichst vollkommenen u. rechten Klarheit seiner selbst verhelfen. Was ich Dir aus meinen Gedanken dagegen geschrieben, das sind im Vergleich dazu nur Versuche, erste Ideen zu nennen u. entbehren noch in vieler Beziehung einer festen Gestaltung.

In Halle habe ich nie rechte Gelegenheit gehabt, mich durch Disputationen mit Anderen zu größrer Bestimmtheit u. Klarheit dessen, was ich wohl fühlte u. mein ganzes inneres Wesen ausmachte, zu bringen. Abgesehen davon, daß Halle überhaupt nicht der Ort ist, ein tieferes ideales Streben hervorzurufen oder zu nähren, so lebte ich zwar dort mit meinen Bekannten in geselligem, u. wie man sagt, „recht gemüthlichem“ Verkehr; aber nur höchst selten konnte ich mit diesem oder jenem auch in verwandten Ideenaustausch kommen. Was von Weber u. Hetzer zu sagen wäre in dieser Beziehung, das werde ich Dir wohl schon geschrieben haben: In Weber habe ich öfter einen Anklang gefunden, so in trauteren Stunden, wenn wir allein waren, bisweilen; aber nie konnte ich es weit mit ihm bringen. Doch er weist wenigstens solche „philosophische“ Betrachtungen, Träumereien richtiger, Experimente über den Grund der Dinge u.s.w., was man sonsti wohl naturphilosophische Schwärmereien || nennen mag, nicht von sich; aber vielmehr läßt sich auch nicht sagen. Dagegen Hetzer will von dergleichen Dingen in der Regel nichts wissen u. bezeichnetj sie als „unfruchtbar“: „‘s kommt nichts dabei heraus“ etc. Aber er findet sich wieder eher in wissenschaftliche Arbeiten als Weber, wie es mir scheint. Ich fürchte mit Dir, daß sie beide in Halle versimpeln werden; Hetzer wird am schnellsten sich in den ehrsamen Philisterstand finden. – So viel über unsre alten Hallischen Kleeblätter. Daß sie mir übrigens bis jetzt noch nicht geschrieben, u. kürzlich ein tüchtiger Rüffel von mir an sie abgegangen ist, dies beiläufig. – Laß uns jetzt schließlich zu der nahen Aussicht auf Wiedersehen mit unsern Gedanken wenden, worauf ich mich schon lange so ungeduldig freue; wenn auch nicht Alles, was man sich etwa vorher verspricht, wie das Zusammentreiben des u. des Gegenstandes u.s.w. nachher zutreffen sollte. Die Hauptsache ist u. bleibt ja doch die, daß ich Dich dann hier habe, – endlich, nach langem vergeblichem Wunsche, mit Dir zusammen auf Einer Universität studieren werde. Dann wollen wir auch über jenes Kapitel u. über alle anderen Herzens angelegenheiten, die im Briefe zu schlecht u. karg ausfallen müssen, nach Lust disputiren, – aber hoffentlich um gegenseitig uns mehr u. mehr aneinander zu schließen, nicht um in Streit zu gerathen. Heute aber muß ich nothwendig (leider!) abbrechen, da noch 6 Briefe auf mich warten, die baldigst geschrieben sein müssen. || Es ist aber durchaus nicht meine Meinung, daß unser Briefwechsel schon als geschlossen (vor Ostern) anzusehen sein soll; im Gegentheil, denke ich, wird sich bis dahin noch manche Gelegenheit zum Schreiben darbieten, u. wenn Du auch mit dem Briefschreiben sehr im Argen liegst, was Deine Freunde betrifft, so hoffe ich doch, daß Du Dich noch einmal überwinden wirst, die Feder in die Hand zu nehmen, die freilich wohl genug zu thun hat mit der prächtigen Reisebeschreibung, die ich bisher vom Anfang an gelesen habe u. in die ich mich, wie kaum in eine, ganz versenkt habe, da ich schon so vielk von den Alpen geträumt habe u. noch träume, daß ich manchmal schon dortgewesen zu sein glaube.

Also auf baldiges Wiedersprechen

Dein alter treuer

Ernst Weiß.

Obschon der Brief wieder 2 Tage dagelegen hat, füge ich doch nichts Neues hinzu u. sende ihn, wie er ist; später mag mehr folgen.

D. O.

Berlin, Jerusalemer Straße 53.

Auch von Deinem Briefe für jetzt nur so viel, daß die Ansichten, die Du entwickelst, ganz die meinigen sind, wie Du wohl nicht zweifeln konntest.l

a eingef.: selbst; b korr. aus: recht; c korr. aus: nicht; d gestr.: ,; e gestr.: ,; f gestr.: gefällt; g korr. aus: den; h gestr: Gründlichkeit; eingef.: Streben; i eingef.: sonst; j korr. aus: gezeichnet; k gestr.: genug; eingefügt: so viel; l Text weiter am linken Rand von S. 5.: Auch von … zweifeln konntest.

 

Letter metadata

Author
Recipient
Dating
19.01.1856
Place of origin
Country of origin
Possessing institution
EHA Jena
Signature
A 16643
ID
16643