Weiß, Ernst

Ernst Weiß an Ernst Haeckel, Halle, 19. November 1854

Halle d. 19/11 1854.

Mein guter alter Häckel!

Wenn es auch nicht so scheint, so ist es doch wirklich wahr, wenn ich Dir versichere, daß ich mich seit lange alle Tage habe hinsetzen wollen, um Dir mal wieder einen langen ausführlichen Brief zu schreiben, wie vor alter Zeit. Denn ich fühle wohl, daß dieser Vorwurf mich mit Recht trifft, nämlich daß meine Brief an Dich in der letztern Zeit närrisch andere gewesen sind, als sonst. Ich sehe eigentlich wirklich gar nicht ein, warum dies sich so verhält; obwohl ich wohl weiß, woher es gekommen. Indes schreiben kann ich das nicht, vielleicht kaum mündlich mittheilen. Aber daß wir nicht ganz wie früher Briefe austauschen, das, meine ich, sollte sich ändern lassen; und so will ich denn heute einmal wieder versuchen, in meine alte Art und Weise hineinzukommen. So sollena denn diese Zeilen zunächst auch nur ein Sammelsurium werden, und bei Gelegenheit an Dich gelangenb. Zu altbacken, denke ich, sollen sie nicht werden.

Nimm es mir nicht übel, wenn ich heute blos Herzenserergießungen auf das Papier trage; sie sind doch manchmal mehr werth als noch so viele Realia, wenn es auch Zeiten gegeben hat, wo man das nicht so geradezu einsah. Freilich ist ein großer Übelstand dabei, daß nämlich der Schreibende wohl sein Herz erleichtert; doch wer bürgt ihm allemal dafür, daß auch der, an welchen er sich richtet, sich nicht langweile? Nun, – zwischen Freunden, denke ich, ist das anders. ||

Ich muß manchmal wohl, wie z. B. heute, ein närrischer Kauz sein; da sitze ich hier in Halle, möchte gern Jemanden mein Herz ausschütten; habe 2 Freunde nicht weit von mir, vor denen ich es mündlich thun könnte, u. dennoch thue ich es nicht, sondern setze mich eben hin, um brieflich einen Dritten zu langweilen. Gewiß, ich bin froh, wenigstens in dem Falle zu sein, daß ich jenesc thun könnte; die Zeit würde mir sonst ganz so katzenjämmerlich verstreichen, als auf der Pennalia nur zu oft. Aber Weber, – ist ein herzensguterd Junge, nur zu verschlossen; dennoch gehen derartige Gespräche mit diesen noch eher als mit Hetzer, wenn er auch selten aufthaut. Letzterer; – doch ich will niemanden kritisiren; ich hatte auch keine weitere Absicht als Dir zu erklären, oder mich vor Dir zu entschuldigen, daß ich grade ein Gespräch anfange, wie das begonnene. Es gehen mir nämlich mancherlei wunderliche Gedanken im Kopf herum, zum Theil durch das, was von Deiner vorigen Sendung mir gehörte, nämlich das Couvert mit den Paar Zeilen, hervorgerufen. Diese mögen denn zunächst abgehandelt werden. Du machst mir unbewußt immer in jenen Zeilen einen Vorwurf, so stark er nur auf einem so kleinen Raume sein kann. Er betrifft nämlich meine Abtrünnigkeit von der Botanik, die ich Dir in meinem letzten Briefe offen (vielleicht etwas übertrieben) geschildert habe. Du machst mir den Vorwurf unbewußt, – oder ich sollte vielmehr sagen, nicht Du sonderne ich machte mir ihn, indem ich Deine Worte las, „daß die Botanik so schlimm denn doch nicht sei (obgleich Du selbst ihr abtrünnig geworden seist), daß ich sie ganz vernachlässigen sollte, z. B. auf einer Harzreise“. Ich habe bei mir überlegt, woher es komme, daß meine sämmtlichen botanischen Bücher, mein Herbarium etc. seit lange so ganz unbenutzt u. unbeachtet dagelegen hat, dass die letzten Pflanzen, die ich eingelegt habe, || noch vom Mai u. Juni her unter der Presse liegen, vielleicht verfault. Da habe ich wieder zurück auf mich geschlossen, daß diese Unbeständigkeit doch wohl in meinem Charakter liegen müsse, daß ich mich, mit zu wenig Selbstständigkeit und Freiheit, selbst, aus eigenem Antriebe einer Sache ganz hinzugebenf nicht im Stande sei. Ja ich will noch weiter gehen (denn ich glaube, ich spreche zu einem Freunde, der die Sache behutsam zu behandeln und zu behalten weiß); ich fürchtete, es sei unrecht von mir, mich auf die Mineralogie geworfen zu haben, da der Hauptantrieb nicht in mir gelegen. Eben deshalb, glaubteg ich, würde ich auch hierin, wie in der Botanik, der Unbeständigkeit halber, jeh nicht nur nichts leisten, sondern auch diei Zeit werde j über kurz oder lang verloren sein, die ich ihr gewidmet zu haben mir einbildete; weil nämlich k ein Geist, der nicht mit Freude u. Freiheit sich einer Sache hingegebenl hat, wie z. B. Du der Zoologie, nichts werth ist und nichts leisten kann. Dies waren die bedenklichsten Gedanken, die in mir aufstiegen, u. einige Zeit konnte ich nichts mit Freudigkeit unternehmen, und in geringerm Maße quälen sie mich jetzt noch.

Nun stieg zugleich noch eine andere Frage in mir auf. Welche der Naturwissenschaften ist denn nun wohl diejenige, für die Du geschaffen sein könntest? Ich will noch ehrlicher sein; ich fragte mich, mit etwas Schwärmerei wahrscheinlich, welches wohl die höchste Wissenschaft sei, durch die wir die Natur, oder einen Theil derselben zu erkennen geleitet werden. Es fiel mir zuerst die Astronomie ein; allein ihr kann nur ein mathematisches Genie angehören, das Ungeheures zu umfassen versteht. Nun; bleiben wir also auf unserer Erde. Ist’s nun die wunderbare, herrliche Welt des organischen Lebens? Gewiß wirst Du unbedingt Ja sagen; und in Deiner Seele würde ich es auch. – Oder, wenn ich einer genauen Kenntniß dieser Welt von vornherein entsage; ist’s wohl jener Zweig, dessen Name schon die tiefste Erkenntniß anzudeuten scheint: die Naturlehre? Die Chemie, welche sich || in dem gesetzmäßigen Variiren der Atomzahlen und dieser nachweisbarm nicht existirenden Größenn (oder vielmehr Kleinheiten) selbst umherbewegt; die Physik, die es mit nachweisbar vorhandenen Kräften zu thun hat, doch von denen sie nicht einmal weiß, „ob das nicht etwa auch blos Stoffe sind, materielle Kräfte oder Theilchen.“ Welche wäre zu wählen? Es scheint mir die letztere noch vorzuziehen, da sie wenigstens mit solchen Kunststückchen nichts zu thun hat, als z. B. aufzusuchen, ob nicht außer der Verbindung C4H5O6, auch die C4H5O7 etc. vorkommen könnte, u. wenn dieselbe nicht da ist, doch keinen Grund dafür zu wissen, warum sie fehlt. – Mit Willen erwähne ich die Mineralogie zuletzt, die nun noch der Wahl sich darbieten wird. Daß sie doch eine tiefere Wissenschaft ist, als man im Anfang wohl meint, dies wenigstens habe ich einsehen gelernt. Aber kann ein toter Stein, dessen höchste Formvollendung ein Denkmal nur weniger wirkender Kräfte ist, die längst ihn verlassen haben, der Gegenstand der tiefsten Wissenschaft sein; oder kann ein Krystall vielmehr nichtso weiter, als höchstens uns von einem längst untergegangenen, gegenwärtig und für alle Zukunft erstarrten Leben erzählen? Dennoch, wenn ich mich genau mit Krystallographie beschäftige, kann ich wohl begeistert werden. Aber das geht mir mit allen Naturwissenschaften ohne Ausnahme und ohne Vorzug der einen so, sobald ich auf Neues, Überraschendes aufmerksam gemacht werde, und dessen giebt es ja so unendlich viel!

So bin ich denn vorläufig zu der Ansicht gelangt, daß die eine der Naturwissenschaften durchaus ebenso hoch stehe als die andere, – u. – – bin vorläufig bei der Mineralogie geblieben und denke dabei zu bleiben. Trotzdem, vielleicht gerade wegen dieser Ansichten, stellt sich bei mir öfter eine Schlaffheit ein, derer ich in Augenblickenp kaum Herr werden kann. – – – – – – –

Doch Du armer Junge; hast Dich durch 4 enge Seiten des uninteressantesten, verbortesten [!] Zeuges durchwürgen müssen (hast Du wirklich?) u. ich habe noch kein menschliches Rühren mit Deinem Leiden gehabt!!! Es würde das grenzenloseste Unrecht sein, Dich noch länger zu plagen, u. das nächste Mal wollen wir also von andern Dingen schwatzen. Adieu indeß! –

a korr. aus: wollen; b gestr. sollen; c eingef.: jenes; d über drei ausgewischte Wörter geschrieben: Aber Weber, – ist ein herzensguter; e eingef.: nicht Du, sondern; f eingef.: -zu-; g korr. aus: glaube; h gestr.: einmal; eingef.: je; i korr. aus: diese; j gestr.: verloren; k gestr. nicht; l korr. aus: hingiebt; m eing.: nachweisbar; n gestr.: selbst; o über zwei ausgewischte Wörter geschrieben: vielmehr nichts; p eingef.: in Augenblicken

 

Letter metadata

Author
Recipient
Dating
19.11.1854
Place of origin
Country of origin
Possessing institution
EHA Jena
Signature
A 16637
ID
16637