Weber, Victor

Victor Weber an Ernst Haeckel, Torgau, 5. Dezember 1857

Inspectoratsstube des Pensionats im Gymnasialgebäude zu Torgau

den 5/12 1857.

Mein lieber Ernst!

Zuvörderst meinen Dank für Deinen Brief, der zwar sehr kurz, fast über die Maaßen kurz ist, mich aber dennoch sehr erfreut hat, als er nach so langer Zwischenzeit das erste direct von Dir ausgegangene Lebenszeichen ist; Ihr beide, (indem ich zugleich auch als dem kleinen Weiß dies geschrieben ansehe) habt vielleicht schon längst eine Antwort darauf erwartet u. meinen Ermahnungen resp. Vorwürfen gegenüber nur das Kehre erst vor Deiner Thür mir zugerufen; allein das weitere wird für mich sprechen. Wären nicht 2 Briefe auf einmal gewesen, würde es auch schon geschehen sein. Denn daß ich trotz der neuen für jetzt mit sehr viel Plagen verbundenen Verhältnisse so viele und lange Briefe (ziemlich 1 Dutzend) habe schreiben können, wie wirklich geschehen, kann ich nur meiner neuen Lebensweise zuschreiben, die ich Euch deshalb bestens empfohlen haben will, an und für sich schon und dann als solchen, die examinirt werden werden oder müssen.

Ich trat also am 10/11 meine Reise in die Welt oder das Leben oder wenn Du lieber willst, ins Philisterium nun ins wirkliche an u. erreichte Torgau glücklich am 11ten, jedoch ohne Gepäck. Letzterer Umstand nöthigte mich 8 Tage lang im Gasthof zu bleiben, was zuletzt langweilig u. kostspielig wurde, weshalb ich am 18ten mit erhabenen || Gefühlen, doch ohne Gepäck und Bücher in obige Amtswohnung einzog. In welche Verwirrung u. peinliche Verlegenheit mich dies versetzte, wirst Du begreifen, da ich plötzlich 22 Stunden mitten im Cursus fortsetzen a und lauter neue Kapitel nach vollständig neuer Methode lehren sollte. Ich verzweifelte deshalb fast ob mir’s möglich sein würde, durchzukommen, doch ist es so leidlich gegangen und jetzt fängts nun schon an in glattem Geleise mit gleichmäßigem Gange zu gehen, so daß ich doch etwas aufathmen kann.

Ich bin nach 2maliger Vorstellung vor sämmtlichen (zum Gebet) versammelten (200) Schülern, noch in jeder meiner Klassen b u. zuletzt auch in der ersten Konferenz eingeführt worden, der Director schwatzt nehmlich gar sehr viel. Er theilte mir übrigens gleich zu Anfang mit, daß ich auf ihn sowohl wie alle übrigen Spruchrichter „durch mein bescheidenes, ganz anspruchsloses Wesen“ einen sehr günstigen Eindruck gemacht habe, das bei meinem Nebenbuhler (H. Schmidt aus Halle Realschule) nicht zu bemerken gewesen sei, strich mich deshalb auch in der Einführungsrede eklig heraus indem er noch viel Zeugniß über vorzüglich (?) bestandene Staatsprüfung und andern sehr lobenden Privatzeugnissen sprach, so daß ich fast erröthen mußte.

Wie ich bereits geschrieben, bin ich außer 2½ Mathematikus zugleich Pensionatsinspector, als welcher ich freie Wohnung u. Holzheizung (in infinitum) im Schulhause habe. Es wohnen nehmlich mit mir auf gleichem Flure 50 Pensionäre in 7 Stuben, die (die Pensionäre nehmlich) meiner Aufsicht anvertraut sind.

In der Eigenschaft eines solchen c Inspectors habe ich nun eine ganz heitere Lebensweise zu führen, die sich zu meiner hallischen || genau so verhält, wie die eines Gefangenen zu der eines Vagabunden.

Hört also!:

Früh morgens fünf Uhr, schreibe 5 Uhr tritt eine Laterne in meine Kammer und spricht: „Herr Inspector, ich habe geweckt.“ Gut, Jean, schließen Sie zu. Sprach’s und springe alsbald ohne viel Besinnen aus dem Bett. Dann 10 Minuten später steht der Kaffee auf dem Tische und noch 5 Minuten später würde das Feuer im Ofen aus und die Stube kalt sein. Alsbald wird geläutet und jetzt wird Alles, was noch im Schlafsaale ist von Jean eingeschlossen und bald darauf nehme ich meine zu diesem Zweck angeschaffte Handlaterne, die Schlüssel u. mustere nun beide Schlafsäle (der eine mit 20, andre 30 Betten), wo ich jedoch außer Kranken oder es sein wollenden meist Niemanden finde. Nachdem nun Alle ihren Kaffee getrunken, müssen sie bis ¾8 Uhr arbeiten, während welcher Zeit ich sie dann auch noch zu inspiciren habe, damit sie nicht etwa ihren Schlaf fortsetzen, obgleich sie kein Sopha haben. Dann ist bis 4 Uhr Schule u. entwederd von 4–6 oder 5–6 Freizeit, nachher aber bis 9 Uhr Arbeitszeit. Während dieser muß ich nun unbedingt zu Hause bleiben u. inspiciren, aber auch während der Erholungsstundene „sei es gut zu bleiben“, damit sie sich nicht etwa zu laut erholen. f Um 9 wird wieder geklingelt, die Lampen auf den endlosen Corridoren ausgelöscht und die Hausthüren sämmtlich verschlossen. Will ich also einen Abend frei haben, so muß ich selbst erst zum Director gehen, daß ich aber nicht jede Woche kommen kann, versteht sich von selbst. − −

Zum Schluß noch etwas mehr Medicinisches für Dich. Erstlich sehe ich an || Deinem Briefe, daß Du Dir schon eine ganz hübsche Doctorpfote angeschafft hast, dermaaßen, daß einige Worte bis zur Stunde nicht habeg entziffern können. Eine fernere Mittheilung, die Dich vielleicht interessiert, ist, daß trotz Vogel’s Berufung u. trotz der Habilitirung der Privatdocenten, an Michael sich in Halle kein einziger Mediciner hat immatrikuliren lassen, so daß sie fast ausgestorben sind. Andere rein medicinische Bemerkungen, die aber mich betreffen, sind folgende: Bei einem Deiner letzten h Besuche ließest Du mich in Deinem kranken Knie ein eigenthümliches Knistern hören, wovor ich so erschrak. Dieses selbe Knacken kann ich jetzt in beiden Knien hervorbringen. Ich wurde, vor alten Zeiten (in Tertia) einmal in der Nacht plötzlich von einem Rheumatismus befallen, der mir die heftigsten Knieschmerzen entfachte; er verging jedoch ohne weitere nachtheilige Folgen zu hinterlassen. Als Student wurde ich aus den Weihnachtsferien kommend, bis auf die Haut durchnäßt u. mußte in den nassen Kleidern stundenlang laufen u. sitzen. Bald darauf schwollen mir Knie u. Knöchel an wie bei der Wassersucht, hatte ich keine besonderen Schmerzen davon, so konnte ich doch bis Ostern nur mit größter Anstrengung gehen. Diesmal bleiben die Folgen jedoch nicht aus u. obgleich 3 Jahre seitdem verflossen sind, kann ich doch weder Kniebeugung macheni noch knien. Bei dem Versuche läßt sich dann jenes Knacken hören u. zugleich habe ich einen Schmerz im Knie, als ob alle Sehnen oder Bänder aufspringen wollten. – Die sonderbare Magenmusik kann ich zwar auch jetzt darstellen, doch drängt sie sich nicht mehr so auf als früher. – Was mir oftmals schon seit einiger Zeit Besorgniß für die Zukunft eingeflößt hat, ist die Vermuthung, daß ich „krank am Herzen“ sei d. h. im physischen nicht metaphysischen Herzen. Es befällt mich oftmals halben Tag lang eine j eigenthümliche Beklemmung, die so niederschlagend auf den Geist wirkt, daß ich mich für den erbärmlichsten Menschen halte, der sich vor sich selbst schämen müsse da er nicht zu dem Allerniedrigen zu gebrauchen sei u. es nicht weiter bringen werde als bis jetzt geschehen. Eine grenzenlose Sehnsucht nach einem unbekannten Etwas hindern mich dann meine Gedanken auch nur eine Viertelstunde lang auf die Arbeit zu richten. Heilung finde ich dann meist in dem Anfange eines langen Briefes und diesem Umstand haben auch die in letzter Zeit abgesandten sehr langen Briefe wozu [weiter auf Rand S. 3] ich eigentlich durchaus keine Zeit hatte. –

Was die beigelegten Photographien betrifft, so habe ich Euch die Wahl gelassen, doch schickt mir die nicht gefallenden wieder zurück, wenn an 2en davon die retouchiert sind die Retouche etwas ungeschickt erscheint, so bedenkt, daß sie von meiner Hand herrühren.

[weiter auf Rand S. 2] Mit den herzlichsten Grüßen vereinige ich die Bitte um eine Antwort.

Zum Schluß noch ein Glückauf zum Examen, von Deinem alten treuen Freunde V. Weber.

[Beilage Stundenplan]

Früh 5 Uhr Aufstehen

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Samstag

8–9

Geograph. V

9–10

Rechnen VI

Rechnen VI

Rechnen VI

Geometr. V

10–11

Geograph. VI

Mathem. R II

Rechnen VI

Mathemat. IV

Mathem. R II

11–12

Mathem. IV

Mathem. IV

Geograph. V

Mathem. G. III

2–3

Mathem. G. II

Mathem. R. II

Geograph. VI

Mathem. G. III

3–4

Mathm IV

Mathem. R. II

Mathem. IV

Mathem. R. II

4–5

Arbeitszeit

Arbeitszeit

Conferenz

Arbeitszeit

5–6

Erholungsstde

Arbeitszeit

Erholungsstde

Arbeitszeit

6–7

Arbeitszeit

Arbeitszeit

Erholungsstde

Arbeitsz.

Arbeitszeit

Erholungsstde

7–9

Arbeitszeit

Arbeitszeit

Arbeitszeit

Arbeitszt.

Arbeitszeit

Arbeitszeit

9 Uhr gesetzl erlaubter Feierabend.

R II = 15 Schüler

IV = 54 Sch.

VI = 37.

G. III = 35 "

V = 45 "

a gestr.: sollte; b gestr.: eingeh; c gestr.: hab; d eingef.: entweder; e korr. aus: Arbeitszeit; f gestr.: Ich k; g gestr.: n; h gestr.: Vers; i eingef.: machen; j gestr.: so

 

Letter metadata

Author
Recipient
Dating
05.12.1857
Place of origin
Country of origin
Possessing institution
EHA Jena
Signature
EHA Jena, A 16205
ID
16205