Weber, Victor

Victor Weber an Ernst Haeckel, Halle, 15.-25. November 1855

Halle den 15/11 1855

Weidenplan Nr 7

Mein bester Ernst!

Der Zapfenstreich ist zwar längst geschlagen, des Thürmers traurige Melodie a verklungen; die Laternen (beiläufig eine schöne Einrichtung in Halle) sind erloschen, draußen herrscht völlige Ruhe des Äthers; die Herrschaft der Nachtwächter hat begonnen, da ich mich anschicke Deinen letzten sehr lieben Brief zu beantworten. Der Brief, der Vieles erduldet, Mancher Menschen Hände gesehen, bis er endlich am 12ten in meine Hände gekommen ist denn ich habe verlassen meine finstre, kalte, nasse Höhle u. sitze jetzt in einer Einöde, b in die nicht der Arm der Polizei reicht, wo der Mensch das Hemde schont. Vor mir Feld, links, rechts Garten, weiter vor mir der kleine Petersberg, weiter hinter mir der hohe Petersberg. Selten verläuft sich ein cultivirter Mensch in so uncultivirte Gegend. Darum hatte Dein Brief nicht mich, u. ich nicht ihn finden können obgleich ich wußte, daß einer hier angekommen war, den ich nun aber nach 8 Tagen bereits wieder an seinen Aufgabeort zurückgeschickt wähnte; bis mich ein glücklicher Zufall belehrte, daß er ruhig, unaufgebrochen im Sekretär eines Namensvetters ruhe. Um so größer war die Freude, da ich ihn endlich hatte; so daß ich denn auch nicht ruhen kann, bevor wenigstens der Anfang einer Antwort gemacht ist. Es hat mich außerordentlich gefreut, daß denn dieses große Werk ohne Fährlichkeiten zu Ende gebracht worden ist u. daß Dir die erwarteten Genüsse in reichlichem Maaße zu Theil geworden sind. Ich muß gestehen, ich kann etwas was wie Bewunderung oder Achtung vulgo Respect aussieht, nicht unterdrücken; denn so ein 9 Wochen sich „unter lauter fremden Menschen herumtreiben“ die vielleicht nicht mal deutsch verstehen; das ist ein übler Umstand! Dazu noch ½ Ctr Alpenheu auf dem eignen Leibe mit rumbuckeln, bei Gott ein elend Handwerk Herr! Nur gut, daß die Alpen-||pflanzen nicht so unflätig lang sind wie manche auf der Steinklippe wachsende, es möchte sonst zuweilen ein Maulthier oder Sennenroß nach den rausbummelnden Stengeln empfinden. Haben nicht die cHeuer oder Senner Einsprache gegen diesen Felddiebstahl erhoben? – Wieviel Pfund Hirschtalg hast Du denn während selbiger Zeit verschmiert? Da wir einmal beim Heue stehen, so möchte ich eine Frage von Dir, der Du doch schon so manches Herbarium gesehen hast, beantwortet wissen: Was denn andere Leute für Papier dazu gebrauchen: Haben sie Schreibpapier, oder völliges Löschpapier? Das Merseburger war jedenfalls das beste, ist aber nun einmal nicht mehr aufzutreiben. Das weiche Löschpapier ist zwar zum Trocknen sehr gut, auch liegen die getrockneten Pflanzen hübsch weich daran; aber es ist zu hygroskopisch u. dann theilt dann die eingesogene Feuchtigkeit die Pflanzen mit; denn meine Compositen lagen in solchem. Ich werde gern, so lange ich in Halle bin, nicht viel botanisiren, weil nichts mehr zu finden ist; möchte aber doch das Verlorengegangene möglichst wieder ersetzen, um doch ein Gesamtbild der halleschen Flora zu besitzen. Und, wenn ich an einen d andern Ort kommen werde, der wieder andere Schätze hat, so weiß ich doch nicht, ob ich nicht wieder anfinge. Es heimelt Einen doch von Zeit zu Zeit wieder an. – Garckes Hallische Kryptogamenflora erscheint übrigens doch noch u. zwar in den Abhandlungen des naturwissenschaftlichen Vereins.

Ich stehe jetzt im 8ten Semester u. sollte daher schon respectabler Schulmeister sein u. eeinen Hut tragen; allein es ging nicht, da keine Stelle leer wurde was mir insofern zwar wieder lieb ist, als ich nun ganz Herr meiner Zeit bin, denn ich habe jetzt viel unmenschlich viel zu thun. Von Collegien höre ich zwar blos Schallers Psychologie, ein Colleg, was zwar für einen Philosophen sehr interessant sein mußte, ich habe aber bis jetzt noch wenig davon verdaut. Denn aus || Sätzen wie: der chemische Gegensatz ist an u. für sich schon Proceß; welcher im Allgemeinen die Bestimmung hat das unterschiedene identisch zu setzen, es zu indifferenzieren, − u. das Indifferente vom wesentlichen Grundsatze zu trennen. Das Princip der Gestaltung daß die Energie der ideellen Allgemeinheit, welche der sich selbst setzende u. vollbringende Zweck ist usw. usw. läßt sich wenig herausnehmen. Schaller hat übrigens etwas losgelassen zur Aufklärung über: Köhlerglaube und Wissenschaft, worin er Rudolph Wagner als Vogt, ganz besonders Letztere wegen seines radikalen Materialismus durchgehechelt. Es ist mir übrigens jetzt auch Gelegenheit mich in derartigen Redensarten ergehen zu erkennen, ich f indem ich jetzt die Themata zu den Examenarbeiten habe geben lassen; wovon denn das philosophische so lautet: Kritische Darstellung der Hauptmomente der philosophischen Atomenlehre Fechners. Der Satz ist kurz, desto länger aber wahrscheinlich die Arbeit. Wenigstens betrifft sie ein allgemein menschliches u. verwandtes Gebiet. Die mathematische dagegen ist etwas länger u. scheint gänzlich unangreifbar zu sein, denn bis jetzt habe ich durchaus keinen vernünftigen [Sinn] herauskriegen können. Damit Du siehst, wie so’n Ding aussieht, setze ich sie Spaßes wegen mit hieher: [Zeichnung zweier Kurven durch zwei Kreise] Zwei Curvenstücke npq5 und vpk6 sollen (in fester Verbindung mit den Kreisen c und γ stehend) sich in dem Punkte p berühren u. bei gleichmäßiger Dehnung jener Kreise um deren Centra c und γ nicht aufhören sich zu berühren so daß jene Curvenstücke als Zähne zweier Räder dienen können, wovon das eine Rad, dessen Mittelpunkt c ist das zweite mit dem Centro γ treibt oder umgekehrt. Es soll die Differenzialgleichung dieser Curven aufgestellt u. die Untersuchung der fraglichen Curvenform für einige einfache Fälle g weiter ausgeführt werden z. B. 1) für den Fall, daß die jedesmalige gemeinschaftliche Tangente der beiden Räder in ihrem || Berührungspunkte senkrecht auf dem geometrischen Ort der Berührung beider Räder stehen soll. 2) für den Fall, daß der Abstand jedes Berührungspunktes von dem Centro des Rades c zum Abstande desselben Punktes vom Centro des Rades γ immer dasselbe Verhältniß behalten soll. 3) für den Fall, daß die Zähne des Rades γ durch gerade Linien, welche durch das Centrum dieses Rades gehen, gebildet werden sollen usw. usw. Da mach sich Einer einen Vers drauf! Daß ich zu Ostern den Examen nicht mache, dürfte demnach wohl feststehen. Denn mit dem Doctormachen geht es nicht so als ich gedacht hatte, der Dr. muß die schriftlichen Arbeiten u. das Examen so gut als jeder andere machen. Dabei kostet der Schwindel an die 70 rℓ. Daß Du meinen Brief an Königs Geburtstag gelesen hast, vielleicht gerade zur selben Zeit, da ich [in] einer Kneipe einige Seidel auf des Königs Wohl trank; ist recht hübsch angesehen, u. ich war auch ganz gefaßt u. ruhig, doch summten mir beständig die Worte vor den Ohren: quod lingua latina scripta non sit, deshalb – is mich! U. so wurde die Arbeit ad acta gelegt. Jedoch hat die Facultät, da sie doch vom Buchstaben nicht lassen konnte 1 stimmig beschlossen, sich beim Minister zu verwenden um vielleicht eine Gratifikation flüssig zu machen. Darauf wird nun zwar der Minister einfach antworten, daß er nichts dawider habe; wenn die Facultät das Geld geben wolle, er habe keins. indeß habe ich doch das eine erreicht, daß die Facultät, mich als Verfasser kennt. Die Arbeit liegt vorläufig bis auf Weiteres im Kasten. Viel Lärmen um Nichts!! Ich habe in der letzten Zeit obgleich ich nicht mehr bei Giebel wohne, doch sehr viel für die Zeitschrift zu thun gehabt, indem ich Meteorologie, Physik, Botanik fast allein zu besorgen hatte, indem Bär der erstlich noch auf heiner großen Reise durch England u. Frankreich || begriffen war und dann kaum Zeit hatte. Er wird nehmlich als Chemiker bei vom Verein ins Leben gerufenen Paraffin u. Braunkohlenölfabrik in Rehmsdorf bei Zeitz angestellt, hat bereits seinen Umzug u. i wird sich wohl nächstens anwöhnlichen [!], da er bereits seit Jahr und Tag verlobt ist. Wie ich von Giebel erfahren, hat der arme Kerl in den letzten 10 Jahren systematisch nicht zu Mittag gegessen außer einen Tag wöchentlich bei Heintz, und dabei in jener finstern schrecklichen Höhle gehaust! U. doch unmäßig dabei geochst. Wohl bekomms!

den 25/11

Da Du wahrscheinlich wenig Gelegenheit hast in Lehrbüchern der Kristallographie herumzustöbern, will ich Dir Einiges aus einem neuen Werke von Volger in Zürich mittheilen, was gewiß in Bezug Fülle u. Verbindung der Wortformen noch über Fischart geht. Um die bekanntlichermaaßen sehr j starke Verwirrung in der kristallographischen Nomenklatur etwas zu lichten, hat Volger eine neue aufgestellt und zwar eine durchweg deutsche. Da gibt’s denn einen Eckling, Kugling, Firstling, Queerling, Timpling, Räutling u. so auch einen Säuling als einfachste Formen. Diese verbinden sich auf die mannichfachste Weise. – So heißt z. B. das Fahlerz nach dieser neuen Benennung: ein rechtsknöchelhöckertimplig – knöchlig – flachkippliger, linksknöchelhöckertimplig-würfliger linker Fahlerz-Timpling. Der Idokras oder Vesuvian: ein plättliger, querstutzlig-stutzliger, 2fach queerdächlig-3fach queerthürmliger, 2fach zinkliger, quaderlig, – 2fach querkantliger, Idokras-Querling. Oder: ein plättliger, querstutzlig-stutzliger, queerhochdächliger, quermitteldächliger, querhochthürmlicher, queermittelthürmlicher, querniederthürmliger, schlankzinkliger, niederzinkliger, quaderlig-2fach queerkantliger Idokras-Queerling. – Diese Kristallographie hat mir übrigens bei meiner Arbeit verdammtes Kopfzerbrechen gemacht u. macht es noch, da gerade diese Kristall-Optik so interessant ist, u. doch stößt man jeden Augenblick auf ein Hinderniß. Ich werde wohl nächstens mich dahinter setzen müssen. Doch da stehen wieder die Examenarbeiten wie drohende Wetter da! Man || weiß wirklich nicht, wo Anfangen u. wo enden. Jedes will das Nothwendigste sein. Nun „es wird doch einmal Sonntag werden, daß der Mensch seine Ruhe hat.“

Von Merseburg könnte ich, wenn ich mich nach dergleichen Sachen überhaupt genauer erkundigte, Dir Mehrers berichten; namentlich über die Schule. Wieck ist seit Michaelis mit seiner Familie nach Leipzig übergesiedelt, wo jetzt, seine schon länger dort sich aufhaltende Tochter Maria, noch ihren k lahmen Fuß gebrochen hat und wohl schwer darnieder liegt. Der neue Rector ist aus Stargard; Name ist mir unbekannt, schwingt wohl sehr die Zuchtruthe („Neue Besen kehren gut“ meint Goram) u. bekennt sich zu dem neumodischen Christenthum. Der Zuchtmeister Buchbinder ist nach Pforte, seine Stelle noch nicht besetzt. Goram ergibt sich nicht nur dem heimlichen sondern auch öffentlichen Suff, hat schon mehrmals mit der Gosse Bekanntschaft gemacht, u. läßt sich früh um 10 statt in der Schule zu sein, von den Schülern aus dem Bette holen. Eine schöne Gesellschaft im Ganzen genommen!

An uns d. h. an mich u. Hetzer hat der kleine Weiß noch nicht geschrieben, − weil er unsere Wohnungen nicht wisse, sondern nur an den Assistenten des mineralogischen Museums. Wo er wohnt weiß ich übrigens nicht einmal. Er wird wohl mit Hilfe seines Onkels mit der Zeit selbst zu einem Kristall mit grader Endflucht u. abgestumpften Polkanten werden. Unsere Universität wird nächstens 2 neue Professoren erhalten an Krukenbergs Stelle: Vogel in Gießen u. an des Mathematikers Joachimsthal Platz: Hesse aus Königsberg. Heintz ist nun auch l Ordentlicher geworden. Wie ich aber von Giebel gehört habe, m will Garcke auch eine deutsche Flora herausgeben.

Es wird wohl nachgerade Zeit, daß der Brief fortkömmt, es möchte sonst noch dieses Jahr vergehen. Laß denn nun bald wieder etwas hören, denn ich freue mich ja stets darüber zumal jetzt in meinem Einsiedlerleben. Zu Ostern wirst Du doch hoffentlich ein paar Tage hierbleiben, denn ich denke es soll das letzte Mal sein, daß wir n als Studenten zusammenkommen. Zum Ende habe ich Dir nur ein recht frohes Weihnachtsfest und Glück auf zum neuen Jahr zu wünschen. Bis dahin o lebe wohl u. sei vielmal gegrüßt von Deinem

Dich von Herzen liebenden V. Weber.

Weidenplan 7.

a gestr.: ist; b gestr.: wo; c gestr.: Wild; d gestr.: O; e gestr.: m; f gestr.: mir; g gestr.: mitge; h gestr.: s; i gestr.: wirkl; j gestr.: gro; k gestr.: langen; l gestr.: aus; m gestr.: soll; n gestr.: uns; o gestr.: sei vielmal

 

Letter metadata

Author
Recipient
Dating
25.11.1855
Place of origin
Country of origin
Possessing institution
EHA Jena
Signature
EHA Jena, A 16203
ID
16203