Weber, Victor

Victor Weber an Ernst Haeckel, Halle, 25. – 27. Oktober 1852

Halle den 25/10 1852.

Mein theurer Ernst!

Der Tag (resp. Nacht) den ich nun seit Ostern erwartet, nach dem ich mich so unaussprechlich gesehnt hatte, der mir allnächtlich mit seiner ganzen Heiterkeit u. Glückseligkeit erschienen war, − er ist nun gekommen u. wie alle, schnell dahingefahren. Nun, liebe Seele wirst du nun Ruhe haben? Doch nein, nein, noch viel weniger als vorher; die Tage, an denen ich hinausging auf den Bahnhof u. in jeden Wagen, mochte er von Berlin und Leipzig kommen, witterte wie der Hund den Haasen; sie waren besser als die jetzigen, denn bei jedemmale malte ich mir den Empfang lebhafter und genauer aus. Und als nun endlich der Wagen, in welchem der Frohersehnte sitzen mußte u. auch saß kam, − o weh er ist nicht allein! So trat eine kleine Mißstimmung ein, weil wir diesem Gedanken, da er unser schönes Gebäude zu Wasser gemacht haben würde, uns nicht hin gegeben hatten. Dann war mirs sehr unlieb, daß der Spaß, wie wir ihn uns für den Tag ausgedacht, nun da Du am Tag nicht kamst, unterlassen werden mußte. Dann war auch der Tag (Wahltag) etwaigen auffallenden Demonstrationen nicht günstig. Doch auch das Wenige was nun blieb, verfehlte der Nacht wegen seine Wirkung bedeutend, denn als ich ihn heute bei vollem Tage, wo er im Reflex stand, besah, stand er so kräftig da u. Aug u. Wange glänzten u. er schien sagen zu wollen: Komme nur mal her u. laß Dich umarmen, mein Junge! Haben uns so lange nicht gesehen u. werden uns so lange nicht mehr wieder sehen! Er bleibt übrigens stehen, bis er dem Zahn der Zeit verfällt. –

Über mein eigenes Benehmen von heute u. gestern habe ich mir selbst die heftigsten Vorwürfe gemacht (nur wünsche ich, daß Du es nicht etwa für Kälte u. Gleichgültigkeit ausgelegt hast.) ||

Da ich wie mirs schon so oft gegangen ist, vorher die schönsten u. längsten Reden aussinnen u. dann wenn es gilt zu reden kein Sterbenswörtchen hervorbringen kann u. dann, darüber ärgerlich, in mich selbst versinke. Könnte ich doch ein bloßes: „Schönen Dank“, so oft ich auch ansetzte, beim besten Willen, selbst noch auf dem Bahnhofe hervorbringen. a So nimm denn nachträglich noch meinen herzlichen Dank hin, der leider Gottes, immer noch in bloßen Worten besteht. Doch ich werde jede Gelegenheit wo ich nur kann, ergreifen, um Dich meiner dankbaren Gesinnung u. Liebe zu versichern. –

Als ich gegen 5 Uhr, nachdem Weiss eingestiegen war, nach Hause kam, ergriff mich ein unnennbares Weh, ein Gefühl, ähnlich dem Heimweh ähnlich [!] wo die Brust zu eng wird, man sie lieber aufreißen u. mit Sturmesschritten nach dem ersehnten Orte eilen möchte. Natürlich machte ichs nicht wie unglückseligen Angedenkens 1844, daß ich mich auf dem Sopha herumwälzte, die Haare raufte u. jammerte daß die Augen roth wurden, dafür nagte es im Innern um so stärker. – Wo kurz vorher Luft gewesen war, war Finsterniß u. statt des lauten Tobens u. Lärmens herrschte schauerliche Ruhe, die nur durch H’s Schnarchen in der Kammer unterbrochen wurde. Wild u. unordentlich lag Alles durch einander. b Erst nachdem ich aufgeräumt hatte, konnte ich mich unter meine Friesdecke auf das weiche, elastische Sopha legen, wo ich lag u. fror bis die Wichsière kam u. dann aufstand aber ohne geschlafen zu haben. – Jetzt will ich nun mein Trauerlied endigen, da dies wahrscheinlich nichts besonderes geneigt ist Dich aufzuheitern. Doch ich kann nichts dafür. –

Dienstag 26/10.

Gestern weil die Sonne so mild schien und ich bis jetzt noch keine Collegia habe, ging ich auf dem Pfännerholzplatz um viel leicht Chenopodium ficus opulifolium zu finden u. fand eine gelbe Conifere die ich für Diplotaxis muralis (die im kleinen Garten gar nicht steht) bestimmte. Es will zwar nicht recht passen, ich weiß aber nicht, was es dann sein sollte. ||

Heute habe ich zum ersten mal Experimentalchemie bei Heintz gehört. Dies ist ein höchst liebenswürdiger u. famoser Kerl was um so mehr auffällt wenn er von Steinberg kommt. Er ist der einzige (von Deinen Bekannten) dessen Vortrag u. sonstiges Benehmen frei ist von Absonderlichkeiten u. Lächerlichkeiten. Damit jedoch die letztern (die nun einmal zu jedem Colleg zu gehören scheint) nicht fehle, so hat er den Assistent Bär bei sich, dessen Bild, so gut ichs aus dem Gedächtniß entwerfen kann, Dir mitschicken werde. Sein Anczug ist ein alter höchst verschossener Sommerrock, dessen sonstige Farbe sich nicht bestimmen lässt, eine schmutzig gelbe Weste mit einem vorjahrhundertlich Muster u. ein graurothes Halstuch, das er das ganze Jahr zu tragen scheint. Dabei spricht er, was das Lächerlichste ist, oder vielmehr stößt die Worte heraus ohne das Maul zu öffnen d indem er zu den gleichgiltigsten Sachen die wichtigste Miene macht, wobei gewöhnlich ein Zischeln von Mann zu Mann sich fortpflanzt. Erdmann ließt jetzt ein publicum über academisches Studium, was so stark besucht war, daß (indem größten Saale) alle 30 Bänke mit je 10–12 Mann besetzt waren und außerdem noch unterschiedliche an den Wänden lehnten. Dabei läßt er von Zeit zu Zeit einige hahnebüchene Witze u. Anecdoten mit einfließen, die natürlich stark belacht werden: z. B. ich weiß daß es viele unter ihnen giebt, die gar nichts von mir wissen, oder wie er obgleich studiosus theologiae sich doch e Medicin betrieben u. im Übermuth sich auf einer Reise als Arzt ausgegeben habe u. sofort zur Behandlung eines „sehr delicaten Falles“ (ungeheures Gelächter) gerufen worden sei.

Mittwoch

Ich gehe jetzt auf Bekanntenjagd aus, denn bis jetzt habe ich auch keinen einzigen gehabt, mit dem ich so gestanden hätte, daß ich ihn besucht u. mit ihm gebummelt hätte. Mir kam ein solches Alleinsein um so öder vor, weil ich ja an das Merseburger Verhältniß namentlich in letzterer Zeit so gewöhnt war, ein Ver-||hältniß was für mich sobald nicht wieder eintreten wird. Denn was der Schnapstrinker in den fliegenden Blättern sagt: ich mag noch soviel Bier trinken, das Fleckchen im Magen, wohin der Schnaps gehört, bleibt doch leer, gilt auch von Euch beiden ganz insbesondere aber von Dir, mein einziger mir unersetzbarer Ernst! Ich kann Dir versichern (es ist keine Phrase) daß ich mich zu manchen Stunden, die wie jetzt den halben Tag ausfallen, mit einer wahrhaft verzehrenden Gluth zu Dir sehne, wie es nur immer 2 sogenannte Liebende thun können. Ich muß jetzt aufhören sonst wird ein Sigwart der jüngere. Ich habe Dir allen möglichen Unsinn hingeschrieben damit es eben ein Brief wird, weil ich vermuthe, daß Du Dich jetzt vielleicht dem Jammer u. Heimweh u. andern sanften Gefühlen hingiebst u. ich aus eigner Erfahrung weiß wie wohlthuend u. schmerzstillend dann ein Brief (wes Inhalts er auch sei, von einem ist, mit dem man zusammengelebt hat u. f sich wohl auch zu Zeiten nach ihm sehnt. Aus demselben Grunde aber muß auch ich Dich bitten öfters u. mehreres an mich zu schreiben, denn es macht mir ein so absonderliches Vergnügen alle diese Briefe immer wieder durchzulesen, obgleich ich sie fast auswendig kann. Auch wäre es mir sehr lieb, wenn Du der alten Studentensitte getreu, mir Dein theures Bild schicktest. Ich habe an dem meinen schon in den Ferien gearbeitet, um es Dir selbst zu übergeben, doch wollte es nicht zu meiner Zufriedenheit ausfallen, doch kein Meister fällt vom Himmel ich werde die Versuche fortsetzen. –

Der Stoff scheint nunmehr auszugehen u. will sich gar nichts mehr finden, drum will ich zum Ende kommen, fällt mir noch dies oder jenes ein, so giebt es wieder einen Brief; überdies habe ich jetzt den Kopf so voll Sorgen wegen der Militärgeschichte wo ich nicht weiß was ich zuerst mache (unter andern Papieren soll ich einen Geburtsschein einschicken.) Dann mit Stipendienerhalt Nummern holen u. dergl. u. mit der Göttinger Geschichte worin ich noch keinen Schritt gethan habe, weil mir’s gewaltig graut zu dem Waisenhausinspector zu gehen u. mir dort Schulstunden (o Gott, einer Klasse Bengels Stunden geben) anweisen zu lassen so meinte es der Unbekannte. – Von der neulichen Nachtwache habe ich nachher nicht das Geringste gespürt nur Abends streckten wir um 8 Uhr u. schlufen [!] bis 8 Uhr. Ich habe mich recht gefreut, daß Du wenigstens gutes Wetter auf der Reise hattest: Indem ich Dir nochmals meinen Dank ausspreche u. mittelbar durch Dich auch Deinen verehrtesten Eltern, u. Dich nochmals bitte mich bald wieder mit einer langen Antwort zu erfreuen verbleibe ich Dein

Dich ewigg liebender V. W. stud. math et phys.

[Randnotizen]

Von Gandtner habe ich noch keine Antwort. Mein Stubenkamerad läßt Dich grüßen.

Meine Benndorfer Pflanzen sind noch nicht da sonst ich schon abgeschickt was ging später davon!

Eben fand ich durch Zufall die alte Ledermappe von Dir, die ich seit Ostern nicht wieder gesehen hatte!

a gestr.: doch ich werde jede Gelegenheit Wenn; b gestr.: und; c gestr.: s; d gestr.: u. macht; e gestr.: mit; f Einschub gestr.: nach dem; g gestr.: er

 

Letter metadata

Author
Recipient
Dating
27.10.1852
Place of origin
Country of origin
Possessing institution
EHA Jena
Signature
EHA Jena, A 16195
ID
16195