Altenburgerin [Pseudonym]

Anonym (Altenburgerin) an Ernst Haeckel, Altenburg, 21. August 1908

Hochverehrter Herr Professor!

Da ich keine Gelegenheit habe, mit Ihnen sprechen zu dürfen, gestatten Sie mir, bitte, Ihnen auf diesem Wege meinen herzlichsten Dank zu sagen für die Befreiung von drückenden Gedanken und die Klarheit, die mir Ihre „Welträthsel“ gebracht haben. Seit längerer Zeit habe ich mich mit Zweifeln aller Art herumkämpfen müssen. Und immer, wenn ich mich mit Mühe wieder in die verschiedenen Glaubens-Dogmen hineingezwängt hatte, lehnte sich eine Vernunftstimme in mir dagegen auf, sodaß es ein fortwährender Kreislauf von Kämpfen und Mattwerden war, was einem ja zwar niemand ansah, auf die Dauer aber sehr quälend war. Dann sagte ich mir manchmal: Denke lieber gar nicht über solche Dinge nach, die Du ja doch nie ergründen wirst, sondern glaube ruhig, was Dir in Schule und Konfirmandenunterricht gelehrt worden ist. || Aber kann man sich das Denken verbieten? Hinzu kam noch, daß ich sehr unwissend in Dingen war, die Naturwissenschaft betrafen, und ich sah in allem nur wenig Zusammenhang. Auch war es mir nicht gut genug, von Affen u. s. w. abzustammen. Kurz, man sah eben durch die von frühester Kindheit auf eingeprägten Lehren und Anschauungen die Dinge immer mit einer ganz besonderen, dunklen, falschen Brille an, die man garnicht gebraucht hätte, wenn das Auge geübt gewesen wäre, die aber alles entstellte. Sobald man sich auf seine im Grunde gesunden Augen verließ, die Brille wegwarf und sich daran gewöhnte, den Dingen ins Gesicht zu sehen, wenn auch anfangs das helle Licht dem Auge etwas weh tat, so war doch mit einem Male alles klarer. Das geschah endlich, als ich jetzt Ihre „Welträthsel“ las. Nun ist endlich jener hemmende Wulst von „Aberglauben“ und „Sagen“ entfernt, der mir immer den Weg zur Wahrheit versperrte. Freilich, man kommt sich nun verschwindend klein vor, – man schämt sich ordentlich, solange in einer Art von Größenwahn gelebt zu haben, indem man sich als „Ebenbild Gottes“ fühlte. Und den Wahn des persönlichen Freiheitsrechtes mußte ich gleich seiner Lieblingsidee, || von der ja der „Wunsch Vater des Gedankens“ ist – die Unsterblichkeit der Seele – fahren lassen. Nach dem Tode ein vollkommenes, reines Dasein, frei von allem Elend dieses Lebens, im Verein mit geliebten und hochverehrten Personen vor den Augen Gottes führen zu können, dachte ich mir zu schön. Und ich muß sagen, daß ich über die Unmöglichkeit solcher Zustände überhaupt nicht nachdachte. Jetzt freilich sehe ich vollkommen ein, daß uns das nur unsere Phantasie vorschmeichelte und im Grunde genommen solch „ewiges Leben“, wie Sie auch sagen, langweilich werden müßte. Auch sage ich mir: was nützt dem Kind ein als Belohnung versprochenes Stück Kuchen, wenn es dasselbe im verabredeten Augenblick nicht bekommt? Man muß im Leben oft Opfer bringen, warum nicht einmal eins der Wahrheit zuliebe? Doch muß ich gestehen, daß es mir gar nicht sehr schwer gefallen ist, die Unsterblichkeitsidee aufzugeben. Je länger ich in Ihren „Welträthseln“ las (und ich habe noch kein Buch mit so großem, brennenden Interesse gelesen) und Ihre monistische Weltanschauung so überzeugend zu mir sprach, desto froher wurde es in mir, und ich atmete auf wie von einem langen Druck befreit. Ja, es kommt eine schöne Begeisterung über mich, wenn ich daran denke, was Sie uns mit Ihren „Welträthseln“ gegeben haben. Unsterblich werden diese einheitlichen Anschauungen und Gedanken sein, die Sie darin aussprachen, wie denn viele große Taten und Werke, || (somit auch die Namen ihrer Schöpfer) solange Menschen leben, fortdauern und immer wieder von neuem auf- und weiterleben, wie die Tonschöpfungen eines Beethoven, die Worte Goethes und die Taten solcher Männer, die der Menschheit so viel genützt und für ihr Wohl Großes getan haben. Seien Sie herzlich bedankt für das Wahre, Gute und Schöne, das aus Ihren „Welträthseln“ zu uns spricht. Und bitte, verzeihen Sie, daß ich so dreist war, Ihre kostbare Zeit mit meinem Geschreibsel in Anspruch zu nehmen und Ihnen damit zur Last zu fallen. Aber es war mir einfach Bedürfnis, Ihnen Dank zu sagen. So oft bedankt man sich aus Höflichkeit für unwichtige Dinge, die einem im Grunde genommen gleichgültig sind. Wie sollte ich da Ihnen, die Sie mir doch so viel gegeben und mich von schwerem Druck befreit haben, meinen Dank, der wirklich aufrichtig ist, nicht sagen, wenngleich ich weiß, daß Ihnen so etwas gleichgültig sein muß, schon, weil Sie mich gar nicht kennen, ferner, weil ich erst ein Mädchen von 22 Jahren bin, aus dessen Urteil und Meinung man sich nicht viel macht. Doch gleichviel. Ich habe Ihnen nun Dank sagen können und freue mich schon sehr auf die „Lebenswunder“, die ich jetzt lesen werde. –

Mögen Sie uns noch recht lange am Leben erhalten bleiben und die Zeiten nicht mehr zu fern sein, wo die Menschen endlich den Mut haben, mit Dingen aufzuräumen, die die Wahrheit nur verbauen und wo dann alle im Licht der reinen Vernunft aufatmen und froh werden!

Hochachtungsvoll

Eine Altenburgerin.

Altenburg, S. A.,

am 21. August 1908.

 

Letter metadata

Recipient
Dating
21.08.1908
Place of origin
Country of origin
Possessing institution
EHA Jena
Signature
EHA Jena, A 10974
ID
10974