Sachsen-Meiningen, Georg II., Herzog von

Georg II., Herzog von Sachsen-Meiningen an Ernst Haeckel, Altenstein, 20. November 1904

Altenstein 20 Nov. 1904

Lieber Häckel!

Wenn ich erst jetzt für Ihren lieben Brief vom 20 October und für Ihr epochemachendes Werk, die Lebenswunder, danke, geschieht dies, weil ich, bevor ich Ihnen schreibe, wenigstens einen Theil desselben gelesen haben wollte. Bei meiner viel Zeit in Anspruch nehmenden geschäftlichen Arbeit bin ich, wiewohl ich die meiste freie Zeit dazu benutzt habe, noch nicht weiter gekommen als bis in das Kapitel vom Plasma. Das Buch nimmt mich ganz gefangen und habe ich Ihnen nicht nur zu danken für Ihre große Liebenswürdigkeit, || mich damit beschenkt zu haben, sondern auch für den hohen geistigen Genuß, den ich durch die eingehende Beschäftigung mit Ihrer klaren Behandlung dieser ebenso schwierigen wie wichtigen Materie empfange.

Ich vermag mich mit den Folgerungen wohl zu befreunden, die Sie in dem von mir bis jetzt Gelesenen aus der monistischen Weltanschauung ziehen, nur nicht mit einem Punkte. Sie gestatten wohl, ihn zu berühren: Aus Nützlichkeitsgründen für die Allgemeinheit sollen gewisse Kategorien von Menschen getödtet werden dürfen, resp. getödtet werden! Wäre da nicht || zu befürchten, durch die Consequenzen, die mit einer Verminderung der Scheu vor dem Tödten des Nächsten verbunden sein müßte, werde die Sicherheit des Lebenʼs ungemein vermindert werden? Sollte es einst üblich werden, den Irrsinnigen, von welchem die Psychater [!] annehmen, er sei unheilbar, durch Mehrheitsbeschluß einer Sachverständigen-Commission zu vernichten, würde anschließend hieran denn nicht bald die Unsitte entstehen, das einfache, wohlfeile Mittel der Tödtung auch Solchen gegenüber anzuwenden, welche aus anderen als aus Irrsinn hergeleiteten Gründen für die Mitmenschen || lästig und unbequem sind? Ich glaube ja! – Und, was die spartanische Selection betrifft, würden unter Herrschaft derselben nicht eine Menge Kinder wegen Schwächlichkeit umgebracht werden, die, wenn sie am Leben gelassen worden wären, in späteren Jahren sich zu kräftigen Individuen entwickelt haben würden? – Jede nicht perverse Mutter liebt das von ihr zur Welt gebrachte Kind, auch dann, wenn es krüppelhaft ist. Denken Sie daran, lieber Häckel, welchʼ entsetzliche Aufregung es für die Mutter eines nicht ganz normalen neugeborenen Kindes sein || würde, müßte sie fürchten, es sich aus Nützlichkeitsgründen entrissen zu sehen und stellen Sie sich ihre Verzweiflung vor, wenn die Tödtung stattfände. Gäbe das nicht Zustände ähnlich dem bethlehemitischen Kindermord? Und wo wäre die Altersgrenze für die Abschlachtung? Wollte man warten bis nach absolvirtem Wochenbett aus Rücksicht fürʼs Leben der Mutter, wäre kein Grund ersichtlich, weshalb man die Fürsorge für Erziehung eines schönen, kräftigen und leistungsfähigen Geschlechtʼs nicht bis zu höherem Alter des Kindes ausdehnen sollte, um auch dasjenige Kind zu berücksichtigen, || das erst in späterem Lebensalter schwächlich oder verkrüppelt würde, etwa in Folge englischer Krankheit, Skropheln u. dergl. – Wer würde bei Erkrankung eines seiner Kinder noch einen Arzt herbeizuziehen wagen, wäre zu befürchten, dieser werde statt als Helfer sich als Vermittler der Tödtung des Patienten erweisen?

Die Tödtung schwacher und verkrüppelte Kinder würde über dies das Zerschlagen manchen Gefäßes für eine große Seele zur Folge haben; denn Erfahrung lehrt, daß gerade in nicht normalen Körpern oft das Phronema sich reich entwickelt! ||

Ich kann Ihnen nachfühlen, welches Wohlgefühl über sie gekommen sein muß, als sie dem Hexenkessel der sog. Freidenkerversammlung entronnen waren und der schönen Natur der Volsker Berge sich widmen konnten. Die romanischen Völker scheinen für den Monismus noch wenig Verständniß zu haben.

Meine Frau, welcher es leider nicht brillant geht, und ich senden Ihnen und Ihrer Frau Gemahlin die herzlichsten Grüße und indem ich unter anderem Guten Ihnen schönsten Erfolg Ihrer Vorlesungen wünsche, bin ich, lieber Häckel, Ihr

Ihnen herzlich ergebener

Georg

 

Letter metadata

Recipient
Dating
20.11.1904
Country of origin
Possessing institution
EHA Jena
Signature
EHA Jena, A 10266
ID
10266