Georg II., Herzog von Sachsen-Meiningen an Ernst Haeckel, Altenstein, 28. November 1894
Altenstein 28.11.94.
Lieber Herr Professor!
Da wir morgen nach Meiningen übersiedeln wollen, sende ich Ihnen die „Kunst unsrer Zeit“ und „Jesus von Nazareth“, welche Sie die Güte hatten, uns zu leihen, zurück, während meine Frau bittet, das Uebrige noch etwas behalten zu dürfen.
Jesus von Nazareth habe ich mit wachsendem Interesse gelesen und mir angeschafft. Das Buch würde, meine ich, noch überzeugender wirken, wenn der Verfasser nicht ab und zu seiner Phantasie die Zügel zu sehr schießen ließe: so beschreibt er das Aeußere || seines Helden derartig umständlich, als habe er mit ihm verkehrt. Manchmal laufen, finde ich, auch irrige Behauptungen unter, so die, einer Leiche könne, wenn angestochen, kein Blut entrinnen, weil es gleich gerinne. Nun habe ich aber sehr oft selbst gesehen, daß verendetes Wild, wenn es gelüftet wird, Schweiß verliert. Was beim Thiere stattfindet, wird auch beim Menschen stattfinden und dürfte Jesus, falls er am Kreuze einen Lanzenstich bekommen haben sollte, denn geblutet haben, wenn dieser Stich unmittelbar nach Eintritt des Todes verfolgt wurde. Aus der Behauptung der Evangelien, Jesus habe bei dieser Gelegenheit Blut verloren, vermag demnach, dächte ich, || eine Angriffswaffe gegen ihre Erzählung von Jesu Leiden am Kreuze nicht hergenommen zu werden. Höchst interessant war mir die Deduction, weshalb Jesus aller Wahrscheinlichkeit nach den Tod am Kreuze nicht gefunden habe, wofür er sehr gute Gründe angiebt, den oben erwähnten freilich ausgenommen.
Wir denken oft und gerne Ihres leider nur so kurzen Aufenthaltʼs hier und freuen uns schon darauf, in Jena oder bei uns Sie wiederzusehen.
Meine Frau trägt mir herzliche Grüße an Sie auf und indem ich Ihnen für die zur An- und Einsicht gesandten Werke bestens danke, bin ich, lieber Herr Professor, Ihr
Ihnen herzlich ergebener
Georg