Heinrich Haeckel an Ernst Haeckel, Wijnendale, 15. August 1915

Wynendaele, 15. VIII. 15

Liebster Onkel!

Noch immer sitzen wir hier an der Yser fest, seit Frühjahr ich in stark vermehrter Thätigkeit. Denn seit der heftigen Schlacht bei Ypern ruht der Feind nie, er will die beträchtlichen, ihm abgenommenen Geländestheile wiederhaben und greift oft an – glücklicherweise ohne Erfolg. Dieser entsetzliche Krieg hat in der Form des || Schützengrabenkrieges ganz neue, besonders scheußliche Vernichtungsinstrumente erfunden. Da die Schützengräben von Freund und Feind meist so dicht – oft auf 30 m! – aneinander liegen, daß die Artillerie den feindlichen nicht beschießen kann, ohne den eigenen zu gefährden, so werden jetzt Handgranaten und aus Katapultähnlichen Apparaten Minen in die Gräben geworfen, von ganz ungeheurer Wirkung. Daher nicht blos sehr schwere, sondern auch || an demselben Menschen vielfache, ich zählte bis 150, Verletzungen. Wir sehnen uns hier Alle auf baldigen Abschluß der Kämpfe in Polen, damit hier der letzte Akt des großen Ringens mit Durchbrechung der ungeheuren Eisenlinie und Hinauswerfen der Engländer aus Calais erfolgen kann. So gut unser Aufenthalt im gesegneten Flandern ist, wächst doch unsere Ungeduld – aber was will das sagen gegen die hohe Freude über den überaus glänzenden || Verlauf des Ganzen, von dem jetzt schon nicht mehr zu bezweifeln ist, daß der Ausgang für uns günstig sein wird.

Von meinen 7 ins Feld gezogenen Neffen sind 2 gefallen, 2 verwundet. Obwohl ich ganz dicht an der Stelle wohne, wo unser armer, zu so großen Hoffnungen berechtigender Franz gefallen ist, habe ich doch sein Grab nicht besuchen können. Es ist längst wieder in Feindeshand, und nach || Fliegerphotographien ist diese Gegend von Granattrichtern durchsetzt, wie ein Sieb.

Hoffentlich geht es dir nach all dem Ungemach gut, und ich denke, die vorzüglichen Aussichten für ein glückliches Ende des Weltkrieges für Deutschland werden deine niedergedrückte Stimmung gehoben haben; ich freue mich, daß du die günstige Wendung unseres Schicksals noch erlebst. Wie hätte Alles so viel schlechter verlaufen können! Mit großem Bedau||ern las ich in der Zeitung, daß Rottenburg eine Erklärung mit unterschrieben hat, in der er Deutschland verurtheilt und von sich abschüttelt – ein betrübendes Zeichen, wie der merkwürdig suggestive England-Standpunkt auch klare Gehirne vollständig verwirrt. Semons Bruder, der Laryngologe in London, hat leider ebenso gehandelt.

So sehr meine hiesige Thätigkeit eine nützliche ist, und daher voll befriedigendende || sein sollte, fange ich doch in wachsendem Maße an, mich aus der einseitigen Kriegschirurgie und noch mehr aus dem unaufhörlichen Sehen all des entsetzlichen frischen Zermalmens der Blüthe unseres Volkes nach geordneter Friedensarbeit zu sehnen – aber wann wird es dazu kommen?

Ist Else Meyer noch bei dir zum Führen des Haushalts in der Villa Medusa? Grüße sie herzlich, ebenso Lisbeth und Hans, Walther und Josefa, falls || sie dort sind.

Wie merkwürdig der Zufall spielt: mein kommandirender General, mit dem ich sehr gut stehe, ist Excellenz v. Kathen. Er stammt aus Freienwalde, ist Sohn eines preußischen Majors, der neben unserem Hause wohnte, er hat mit Hermann und Anna viel gespielt, entsinnt sich meiner Mutter sehr genau und war viel in unserem Hause.

Mit herzlichem Gruß und dem Bedauern, in dieser großen Zeit nicht persönlich mit dir Zwiesprache halten zu können, | sowie besten Wünschen für dein Ergehen in alter Treue dein Heinricha

a Schlußworte („sowie […] Heinrich“) vertikal am Rand von S. 8 nachgetragen

Brief Metadaten

ID
35467
Gattung
Brief mit Umschlag
Entstehungsort
Wijnendaele
Zielort
Datierung
15.08.1915
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
8
Umfang Blätter
4
Format
12,9 x 17,1 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 35467
Zitiervorlage
Haeckel, Heinrich an Haeckel, Ernst; Wijnendaele; 15.08.1915; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_35467