Gegenbaur, Carl

Carl Gegenbaur an Ernst Haeckel, Jena, 3. September 1869

Jena 3. Sept. |1869.

Lieber Ernst!

Ich danke Dir herzlich für Deine heute erhaltenen Zeilen, und sende Dir hiemit nebst herzlichem Gruße wiederum gute Nachricht. Seit mehreren Tagen verläßt meine Frau täglich auf einige Stunden das Bett, und so und so wird a denn die stätig fortschreitende Besserung ihr bald auch größeres erlauben, und den Normalzustand nicht allzulang hinausschieben. Mir geht es im Ganzen erträglich, doch ich habe vieles zu ertragen mich gewöhnt, selbst die Schlaflosigkeit, die mir immer viel zu schaffen macht. Dabei komme ich so herunter daß ich kaum meine elende Correctur besorgen mag, oder kann. Je mehr die Erregtheit der Spannung nachläßt, und ich bezüglich des Befindens meiner Frau eigentlich ganz ruhig sein könnte, desto mehr empfinde ich die Erschöpfung. Es ist mir sehr nöthig daß ich auf einige Zeit von hier weggehe, und meine Frau, dringt täglich in mich, fortzugehen, allein für jetzt wage ich es doch noch nicht meine Frau so ganz in fremden Händen zurückzulassen. So hoffe ich denn in 14 Tagen auch etwas für mich thun zu können. ||

Deine Reiseberichte haben meine Vorstellungen von Norge nicht bedeutend modificirt, aber meine größte Theilnahme erweckt bezüglich der Dich begleitenden Ungunst der Witterung und der Schwierigkeiten in der Erreichung Deiner zoolog. Zwecke. Die Angaben auf die Du Dich stütztest müssen doch sehr unzuverläßig gewesen sein. Was Du bezüglich des Fischmarkts zu Bergen schreibst hätte ich übrigens kaum geglaubt, da ist es ja auf Helgoland viel besser. Damit jene Dürftigkeit nicht ganz ohne Tribut für mich besteht, ersuche ich Dich mir einige (2-3) gut conservirte Häringe, möglichst große Exemplare, zu besorgen. Dieses gemeine Thier ist sehr selten!!

Von den Häringen komme ich naturgemäß auf eine Umschau in unseren nahen und nächsten Verhältnißen, und kann Dir von letzteren nur absolute Ferienstille melden, die nur durch die Hartung’sche Dampfsäge in nicht sehr erfreulicher Weise unterbrochen wird. Von Collegen sehe ich außer dem hin und wieder noch erscheinenden Hakim Effendi, nur Schultze, der sich manchmal zu mir herauf verliert. Damit ist’s hier Alle! Aber auch die Buchhändler schicken nichts besonderes, wenn nicht eine französ. || Uebersetzung der Agassiz’schen Introduction als Theil einer philosoph. Encyclopädie der Merkwürdigkeiten wegen genannt zu werden verdiente. Doch ist das wohl noch harmloser, und für die Wissenschaft unschädlicher als

[eingeklebter Zeitungsausschnitt:] den Privatdocenten Dr. Karl Semper in Würzburg zum ordentlichen Professor der Zoologie und Conservator des zoologischen Kabinets in der philosophischen Fakultät der Hochschule Würzburg zu ernennen. [Ende]

Hoffentlich stiftet derselbe bald eine Schule, und gibt uns bald Gelegenheit die Entwickelung der Wissenschaft auch ohne den gewöhnlichsten Menschenverstand gefördert zu sehen, nachdem es bisher mit dem letzteren langsam genug vorwärts ging. Uebrigens glaube ja nicht daß man so großartige Experimente nur jenseits der Mainlinie anstellt, oder daß gar meine süddeutsche Natur mich nur das jenseits der Thüringer Berge wachsende Gute und Schöne finden und empfinden ließe; ich bin auch für die Gaben des norddeutschen Bundes nicht unempfänglich, und verkenne auch da die gewaltigen Fortschritte nicht. Es ist erstaunlich wie sehr sich die Civilisation ausbreitet, und dafür geben statistische Zahlen das sicherste Maaß. So zb.

[eingeklebter Zeitungsausschnitt:] Berlin, 29. Aug. Die Ueberwucherung der Klöster in Preußen ergiebt sich aus der folgenden Statistik: Während im Jahre 1855 die Zahl sämmtlicher Klöster 69 betrug, war dieselbe im Jahre 1864 auf 243 gewachsen; 1855 gab es 976 Mönche und Nonnen, 1864: 5250; 1866 zählte man schon 481 Klöster, worunter sich allein 8 Jesuitencollegien befinden (3 in der Diöcese Köln, 1 in Trier, 1 in Paderborn, 2 in Münster, 1 in Breslau. 1 in Hohenzollern.) [Ende]

Man sieht daraus wie ungerecht, wie unwahr || die von der Mißgunst eingegebenen Vorwürfe sind, welche von antinationalen Blättern der norddeutschen Vormacht gemacht werden; daß sie nur den Militarismus fördere. Wie anders gestaltet sich unsere Meinung wenn unsere dem Blicke kaum trauenden Augen jene Zahlen sehen! Welcher Segen wird sich erst verbreiten wenn wieder nach einigen Jahren jene Zahlen wieder um’s doppelte gewachsen sind! –

Also siehst Du, daß ich auch dem naheliegenden Guten das Auge nicht verschließe, selbst auf die Gefahr hin, dabei Deiner Zustimmung nicht theilhaftig zu werden.

Doch genug davon. Ich will Dir nicht noch mehr Trost verursachen, als Deinem letzten Briefe zufolge nordisches Clima ohnehin bietet, vielmehr wollte ich Dich meiner alten Freundschaft von neuem versichern, und schließe daher mit warmen Händedruck und brüderlichem Kusse. Meine besten Wünsche begleiten Dich!

Dein treuergebener

Carl G.

Solltest Du in Berlin Ruges sehen, so kannst Du vielleicht erfahren was Carl R. beabsichtigt. Ich möchte gerne darüber ins Reine kommen, um mich gegebenen Falls anderweitig umzusehen.

a Von oben eingefügt: wird.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
03.09.1869
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 9963
ID
9963