Bölsche, Wilhelm

Wilhelm Bölsche an Ernst Haeckel, Friedrichshagen, 5. November 1905

Friedrichshagen

b. Berlin,

Kaiserstraße.

5.XI.05.

Lieber Freund!

Bäge sagte mir, daß Dr. Schmidt hierher zu einer Besprechung käme, ich verschob deßhalb meine Antwort, – es ist aber bisher nicht geschehen. Wie ich Dir schon kurz mitteilte, bin ich im Prinzip natürlich gern bei der Sache. Nur möchte ich (bei etwas wachsender Abneigung gegen bloßes Vereinswesen) möglichst eine praktische Hülfe damit verbunden sehen. Es thut meiner Ansicht || nach ganz besonders not, daß eine feste Organisation geschaffen würde für populär-naturwissenschaftliche und weltanschaulich-aufklärende Vorträge über ganz Deutschland weg. Diese Vorträge, bis in alle Winkel ausgedehnt, thun eine ganz kolossale agitatorische Arbeit und sind eine dringliche Notwendigkeit gegenüber der mit allen Mitteln wieder eindringenden orthodoxen Kirche, insbesondere dem Klerikalismus. Eine solche Organisation ließe sich nun im Anschluß an einen solchen Bund sehr gut schaffen und gäbe ihm sogleich eine praktische Aufgabe, die über die bloße || Vereinsmeierei hinausführte. Vorträge sind bei der augenblicklichen Stimmung wichtiger als eine Zeitschrift, deren Verbreitung in die Provinz hinein an dem allgemeinen schlechten Apparat unseres Buchhandels zur Zeit immer wieder scheitert. Die Aufgabe des Bundes wäre in erster Linie (nach dieser Seite!) geeignete Redekräfte ausfindig zu machen und zu unterstützen, daß sie sich häufiger dieser Aufgabe widmen könnten. Ferner Kenntniß zu nehmen von den ungezählten schon bestehenden Vereinigungen an so und soviel Orten, die bisher schon aufgeklärte Gesinnungen || durch Wahl ihrer Redner bekundet haben; eventuell für Neugründung von solchen Vereinen Propaganda zu machen. Die wesentlichste Schwierigkeit liegt im Aufspüren neuer guter Redekräfte. Es ist da im Moment überall große Not, was aber doch zum Teil daran liegt, daß keine Organisation mit den nötigen Mitteln da ist, um die vorhandenen Kräfte ordentlich in Aktion zu bringen. Jedenfalls glaube ich, daß der Bund mit dem vorhandenen besseren Redner-Material so haushälterisch wie möglich verfahren müßte || und ich würde es z. B. doch für eine Gefahr halten, wenn so intensive und wirksame Kräfte wie Wille dabei ausgeschaltet werden sollten. Es ist gewiß, daß Wille in manchen Punkten seiner Weltanschauung sehr individuelle Wege geht, nicht erst neuerdings übrigens, sondern seit Jahr und Tag. Ich glaube indessen, daß es bei Versammlung einer Reihe verschiedener Individualitäten unter eine Bundesfahne durchweg so gehen wird, daß es dabei einen Flügel gibt, der sich mehr auf das Exaktere und intelektuell Schärfere stützt, und einen andern, der mehr geneigt ist, die Resultate mehr im Gewande dichterisch-||spekulativer Ausgestaltung mit sehr individuellem Zuschnitt zu fassen. In solcher Kampfzeit wie heute, vor so unzweideutig „schwarzem" Horizonte, indessen kommt es doch wohl wesentlich auf die Stellung nach außen an: ob einer im Kampf gegen diese gemeinsame Gegnerschaft fest seinen Mann steht. Wille steht, so weit ich ihn überschaue, in allen Propagandafragen fest auf freidenkerischem Boden, kämpft mit Energie gegen die Kirche und ihre Weltanschauung, gilt in allen Kreisen, die ihn || kennen und als glänzenden Redner schätzen, als ausgesprochen antikirchliche Macht, ist für seine Anschauungen nach dieser Seite mehrfach schon als Märtyrer für das Freidenkertum mit seiner Person eingetreten, – kurz, ich finde, daß er negativ das Äußerste stets geleistet hat und zwar, wie bei der absoluten Lauterkeit seines Charakters feststeht, aus treuer innerer Ueberzeugung. Von dem extremen Ueberspringen in das okkultistische Kuddelmuddel (das keine Weltanschauung, sondern eine Confusions-||fabrik ist) wie es leider bei Steiner eingetreten zu sein scheint, ist bei Wille um so weniger wohl etwas zu befürchten, als auch der Teil seiner Ansichten, den ich als den individuellen bezeichne, wie gesagt nicht ein neues Stadium bei ihm ist, sondern stets vorhanden war. In einem so unerbittlichen Kampf, wie ihn heute das Anwachsen des Ultramontanismus uns auferlegt, müssen wir aber, scheint mir, die Nuancen bei uns möglichst übersehen, um denen da drüben, von denen uns nicht || bloß eine „Nuance" trennt, als feste Macht mit allen verfügbaren Kräften gegenüber zu treten. So weit ich die allgemeine geistige Sachlage heute beurteilen kann, scheinen mir zwei Sorten Taktik darin am meisten geboten: nach der orthodox kirchlichen Seite stets die denkbar schärfste Absage und Abwehr, dort ist doch nichts mehr zu bessern, sondern nur eine geschlossene Parteiorganisation resolut zu bekämpfen; auf der anderen Seite aber eine möglichst versöhnliche Stimmung und Lehre gegenüber || der ungeheuren, täglich wachsenden Zahl der Leute, die noch schwanken, noch einige Angst haben vor naturwissenschaftlicher Weltanschauung. Letzteren gegenüber kann durch geschickte Methode unglaublich viel gewonnen werden, – wir brauchen aber grade diese Massen notwendig, wenn wir der sich beständig durch eigene raffiniert geschickt ausgeübte Propaganda stärkenden Kirche Stand halten wollen. Daß bei diesem Hin- und Herlavieren gelegentlich Fehler gemacht werden, daß einer im Sinne des Vermittelnden, Versöhnlichen des Guten zu viel thut und daß ihm || die Sache nach dieser Richtung gleichsam einmal „durchgeht", ist ja schwer zu vermeiden. Die Hauptsache ist aber dann eben doch die feste Haltung nach der anderen Seite, – an der müssen wir den Mann messen.

Wir haben einen sehr verregneten Sommer und Herbst hinter uns, zuletzt kam schon Anfang Oktober der dicke Schnee nach Schreiberhau. Aber die Erinnerung an unsere schöne, in jeder Hinsicht wohl gelungene Italienfahrt entschädigte. Ich habe Italien noch nie in solcher Pracht gesehen, Rom in der Rosenblüte, in Sizilien ein Farben-||rausch ohne gleichen! Besonders Palermo hat mich diesmal gefesselt, mit seinem unvergleichlichen botan. Garten voll Bougainvillien, Erythrinen und andere Tropensachen, die ich noch nie gesehen hatten [!]. Den Vesuv habe ich ebenfalls zum ersten Mal in großer Thätigkeit gesehen.

Deine Farben-Photographie, die mir die Neue Photogr. Gesellschaft sandte, steht vor mir und erfreut mich oft durch ihre wunderbare Plastik.

Mit den herzlichsten Grüßen (auch von meiner Frau)

Dein W. Bölsche

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
05.11.1905
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 9663
ID
9663