Anonym ("Einer, der Ihre Lehre genau studiert hat")

Anonym an Ernst Haeckel, Hannover, 8. April 1909

Hannover d. 8.4.09

Sehr geehrter Herr Professor!

In den letzten Tagen und Wochen hat sich fast die gesamte Presse mit Ihren neuesten wissenschaftlichen Fälschungen beschäftigt. Wie Ihnen wohl bekannt, hat der Zoologe Dr. Brass diese Ihre Fälschungen aufgedeckt und damit der ganzen gebildeten Welt gezeigt, daß Sie die Begriffe Forschergewissen, Forscherehre u. Wahrhaftigkeit nur von Hörensagen kennen. Dieser Ihr Verstoß gegen das Höchste was einen Menschen ziert, die Wahrhaftigkeit hat Ihnen in der gesamten Presse u. bei jedem nur einigermaßen aufrichtig gesinnten Menschen Ihre || Autorität völlig genommen. Brachten doch selbst liberale führende Zeitungen lange Artikel, die das von Ihnen geübte Verfahren aufs schärfste verurteilen und dem Herrn Dr. Brass ihre Anerkennung aussprechen, daß er Ihr gefährliches Treiben an das Licht gezogen hat. Wenn schon jedem nicht ganz ungebildeten und etwas Takt und Anstandsgefühl besitzenden Menschen der gehässige u. unsachliche Ton, der in Ihren „Welträtseln“ zum Ausdruck kommt, weit abstoßen müßte, so ist es doch geradezu beispiellos, wie Sie jedem Menschen, der Ihnen in Ihren Ansichten widerspricht u. Ihnen nachweist auf wie schwachen Füßen Ihre ganze Wissenschaft steht, entgegentreten. Und wenn || verschiedene große Naturforscher geäußert haben, sie könnten Sie infolge der vielen großen Blößen, die Sie sich gegeben, garnicht mehr für Ernst nehmen, so haben sie darin nur zu recht, stellen Ihnen doch die verschiedenen Schriften der Philosophie – ich nenne nur Vorländer – auch eina höchst klägliches Zeugnis aus. Selbst – wie ich es selbst gehört habe – viele Monisten haben sich nach dem Bekanntwerden Ihrer neuesten Fälschungen von Ihnen abgewandt u. Ihr Ruhm u. Ihre Autorität wird nur nochb von denen anerkannt, die infolge mangelhafter Bildung u. mäßigen Wissens nicht imstande sind c einzusehen, daß der große Anfang, den || Sie bisher hatten, nicht etwa die Folge ernster wissenschaftlicher Forschung, sondern lediglich kühner, hypothetischer völlig unbewiesener Behauptungen war. Neulich hat in Berlin in einem Vortrage der medicinischen Vereinigung ein Geheimrat geäußert, das was die Monisten in erster Linie auszeichne, sei eine geradezu beispiellose Ignoranz, die sich in gehässigen und gemeinen Redensarten gegenüber Andersdenkenden äußere. Ein Musterbeispiel für solche Ignoranz ist Ihr Freund Breitenbach, den eine führende Tageszeitung neulich mit Recht eine unvornehme, taktlose Natur nannte, die es wohl nie gelernt habe sachlich u. in gebildetem Ton auf das zu antworten, was andersdenkende von ihr wissen wollten. Und || wenn, wie Sie behaupten, das Kultusministerium in Berlin Ihre Schriften u. Werke auf den Index gesetzt hat, so kann ich noch hinzufügen, daß jeder Mensch mit nurd etwas Takt u. Ehrgefühl dasselbe tut, denn ein aufmerksamer u. wohlunterrichteter Leser merkt sofort an der ganzen Abfassung u. dem Tone, was er davon zu halten hat, u. der große Abfall der sich jetzt infolge Ihre neuesten Fälschungen vollzogen hat, beweist, wie Ihre Anhänger Ihnen wenigstens Wahrhaftigkeit u. ernstes Streben nach Wahrheit zugetraut haben, nachdem sie aber erkannt haben, || daß Sie nichts davon besitzen, haben sie sich in großen Massen von Ihnen abgewandt u. als ein entlaubter Baum stehen Sie jetzt da. Angesichts dieses großen Schmerzes, den Ihnen Herr Dr. Brass angethan hat, halten es nun einiche [!] Anhänger von Ihnen in einer Ehrenerklärung für Sie für ihre Pflichte zu retten, was noch zu retten war. Jedoch nahm sie sich als solche etwas komisch aus, denn sie verwarfen einmütig die von Ihnen geübte Art zu entwickeln. Dann aber tadelten die den gegen Sie vom Keplerbund geführten Kampf, wobei sie aber – wahrscheinlich absichtlich – verschwiegen, daß Sie es erst gewesen sind, der den Kampf auf das || persönliche Gebiet übergeleitet hatten u. f der Herrn Dr. Brass in ganz unsachlicher, g gehässiger u. ungebildeter Art u. Weise geantwortet hat. Wenn h die Anhänge des Keplerbundes nicht soi noble u. gebildete Menschen wären, dann würden sie jetzt noch Klage wegen grober Beleidigung gegen Sie anstrengen u. außer dieser großen Blamage, die Sie jetzt erlebt haben, würde Ihr ganzes Verfahren u. Ihr Character vor der großen Öffentlichkeit erörtert werden u. j eine Verurteilung Ihrer Person würde die notwendige Folge sein. Der Keplerbund wird es aber mit Rücksicht auf Ihr || hohes Alter unterlassen, einek Rücksicht, die Ihnen, hochgeehrter Herr Professor, leider gänzlich unbekannt istl. Zum Schluß möchte ich Ihnen noch mitteilen, wie die Engländer über Ihre Werke u. Ihre Lehre urteilen. Ein bekannter engl. Anatom hat sichm neulich darüber folgendermaßen geäußert: Wenn ein Mann hier bei uns solches geschrieben u. gelehrt hätte, dann hätte man ihn eingesperrt u. nur der dumme Deutsche Michel kann solch einen Menschen zum Professor, geschweige denn zu einer Excellenz machen. Dieser Ansicht sind auch unendlich viel Deutsche, u. wenn ich auch durchaus nicht verkennen will, daß der Entwicklungsgedanke eine große Rolle in der Welt spielt, so hätten Sie doch bei n allem was Sie dafür gelehrt u. geschrieben haben || einen anständigen, feinen, eines gebildeten Menschen würdigen Ton anschlageno u. vor allen Dingen die Wahrhaftigkeit nicht außer Acht lassen sollen, dann hätte die Menschheit mit Achtung u. Ehrerbietung auf Sie schauen können, anstatt wie jetzt mit Verachtung u. Hohn, u. Ihr Andenken wäre in Ehren gehalten worden. Bedenken Sie, was der große bescheidene Darwin gesagt hat, dem allein das Verdienst um den Entwicklungsgedanken zukommt – die Herren Monisten || verschweigen das aber stets – „Wenn man auch die Entwicklung in der Welt anerkennen muß, so fehlt doch über das „Wie“ des Entwicklungsganges jede naturwissenschaftliche klare Erkenntnis u. ewig werde es ein Rätsel bleiben woher Ursprung des Lebens u. woher die Bewegung gekommen sei,“ auch Sie, hochverehrter Herr Professor, sollten es doch immer mehr einsehen, daß nicht derjenige gefeiert wird, der behauptet er p wisse etwas und weiß doch nichts, sondern der, der bescheiden spricht: „Ignoramus, ignorabimus“.

Einer, der Ihre Lehre genau studirt hat.

Vielleicht schicken Sie diesen Brief an Ihren Freund H. Breitenbach, damit er etwas mehr Bescheidenheit lernt.q

a eingef.: ein; b eingef.: noch; c gestr.: d; d eingef.: nur; e eingef.: für ihre Pflicht; f gestr.: dem; g gestr.: u.; h gestr.: der Keple; i eingef.: so; j gestr.: der; k eingef.: eine; l gestr.: sind; eingef.: ist; m eingef.: sich; n gestr.: Ihnen; o korr. aus: angeschlagen; p gestr.: habe etwas; q Text weiter am linken Rand von S. 10: Vielleicht schicken Sie … mehr Bescheidenheit lernt.

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
08.04.1909
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 9516
ID
9516