Becker, Friedrich

Friedrich Becker an Ernst Haeckel, Peel, 12. März 1917

NICHT ZWISCHEN DIE ZEILEN SCHREIBEN!

12/3/17.

Hochgeehrter Herr Professor!

Verbindlichsten Dank für Ihre freundlichen Zeilen vom 22/1. Ich habe in London wohl so ziemlich alle deutschen Ausgaben Ihrer Werke, doch habe leider keine Erlaubnis erwirken können, mir diese hersenden lassen zu dürfen. Man ist ja aber Gottlob noch geistesfrisch genug, um mit den einmal festgenagelten Kenntnissen weiterarbeiten zu können. Schliesslich gelang es mir, wenigstens die „Generelle Morphologie“ und die englischen Bearbeitungen „Natural History of Creation“ und „The Evolution of Man“ zu bekommen, doch streift McCade in letzterer die Ursprungsfrage der mammae im männlichen Geschlecht zu oberflächlich. Er stellt sie schlechtweg als ein gutes Beispiel einer „erworbenen Eigenschaft“ hin, es dem Leser überlassend, mit Weismann und Kropotkin weiter zu argumentieren. Kurz vor meiner glorreichen Gefangennahme vom Studiertisch weg hatte gerade ein Sudium der Krafft-Ebing’schen Werke beendet. In der „Psychopathia sexualis“ findet sich unter den „Biologischen Tatsachen“ und unter den klinischen und anthropologischen Tatsachen die Kr.-E. selbst und Gelehrte wie Kaltenbach zum Thema der „konträren Sexualempfindung“ liefern, recht Interessantes für die auch von mir geteilte Auffassung, dass eine bisexualle Veranlagung besteht und die Möglichkeit vorhanden ist, dass die andere Sexualität in latentem Zustand bleibt – unter noch unbekannten Bedingungen, vielleicht unter Agens spezifischer Faktoren (Mendels Präsenz- und Absenz-Hypothese). Interessant ist der von Klaus erörterte Fall der zu den Krebstieren gezählten Cymothoideen, die im ersten Teil ihres Lebens als Männchen, im zweiten unter Aenderung zahlreicher, auch sekundärer Geschlechtscharaktere als Weibchen fungieren. Die Bedeutung des Mendelismus wird allerdings hier in England stark überschätzt – Bateson, Punnett etc. gehen mit ihm zu Werke wie jener Dorfapotheker, der Zinksalbe, Hirschtalg etc. aus ein und demselben Topf verkauft. – Hier im Lager wird mit „teutonischer Gründlichkeit“ gebüffelt. Die weite Mehrzahl meiner Leidensgenossen singt mit mir: „Es ist Wahnbild nur der Toren, dass diese Zeit für uns verloren!“ Wir wissen was wir zu schaffen haben nach dem Kriege und hoffen mit Ihnen auf baldige Erlösung aus den Händen dieses Gesindels. In vollster Hochachtung Ihr erg. Friedr. Becker ||

Herrn

Professor Dr. Ernst Haeckel

Jena (Thür.)

Germany

Fr. Becker. Camp 2, Compound 3, Hut 6a.

Knockaloe Camp.

Peel

(Isle of Man)

H: EHA Jena, Sign.: A 7802. – 1 Bl., 15,2 x 34,7 cm, egh. Br., 1 S. beschr., Besitzstempel, beigefügtes Briefkuvert.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
12.03.1917
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 7802
ID
7802