Becker, Emilie Rosa

Emilie Rosa Becker an Ernst Haeckel, Heppenheim, 8. Februar 1914

Heppenheim/Bergstr.

Liebigstr. 2.

8 Febr. 14.

Hoch verehrter Herr Geheimrat!

Gestatten Sie gütigst einer einsamen Seele eine kurze Spanne der Aussprache mit Ihnen, um Ihnen eine Mitteilung zu machen. Heute jährt sich nämlich der Tag, da ein warmer Freund und Anhänger von Ihnen, Daniel Georg Becker, einging zum ewigen Frieden!

Wie oft schon wollte ich Ihnen, der Sie dem alten Manne so freundliches Interesse entgegen brachten, den Tod meines Vaters mitteilen, konnte aber nie die Muße und Ruhe finden, die ich zu diesem Brief brauche, der mir durch eine offene Aussprache ein Trost werden soll. Sieben schöne, friedliche Jahre in diesem paradiesischen Erdenwinkelchen waren dem alten || Manne vergönnt, als Abschluß eines mehr kummer- als freudreichen Lebens! Tag für Tag saß er im Sommer auf sonniger Veranda und freute sich an dem herrlichen Blick über blühende Gärten weg hinein in die Bergwälder. Aber dann kam auf einmal die Altersschwäche, die ihn Tag und Nacht nicht mehr unterscheiden ließ, und ein rastloses Wandern begann, vom Bett zum Sessel, ohne Unterbrechung, durch 3 volle Wochen! In der vierten kam endlich die Ruhe und diese stillen Stunden im Vorzimmer des Todes, diese einsamen Nächte, wo ich ganz allein im Haus war mit dem sterbenden Manne, werde ich nie vergessen! Da erinnere ich mich noch einer Nacht, wo wir Beide auf dem Sopha saßen, Vater vor sich hin träumend, ich in „Insulinde“ blätternd, um nicht einzuschlafen – da plötzlich deutet der alte Mann auf ein Bild und sagt mit schwerer Zunge: Molukken-Krebs! In den wenigen lichten Augenblicken sogar kam noch das Interesse für die Natur zum Ausdruck, das || ja auch sein ganzes Leben beseelt hat.

Das war aber auch das letzte Mal, dann trat allmählig Agonie ein und am 8ten Februar, drei Monate vor Vollendung des 80ten Lebensjahres, schlief Vater friedlich ein, um nicht wieder zu erwachen. Seinem Wunsche gemäß wurde er verbrannt und dieses Bild hat einen unauslöschlichen Eindruck in mir hinterlassen!

Da stand der Sarg, von dem man den Deckel entfernt hatte, in einem riesigen Feuermeere, aus allen Spalten züngelten die Flammen, da war kein Rausch und kein Ruß, alles so rein und klar und inmitten dieser gewaltigen Glut lag unbewegt der liebe Tote, die irdische Umkleidung eines erloschenen Geistes! Nach 2 Stunden war alles zu einem Häuflein Asche zerfallen! – –

Da stand ich nun mit einem Herzen voll Schmerz und Zweifel in meiner entsetzlichen Einsamkeit! Nachdem ich Vater 14 Jahre gepflegt hatte, war || nun mein Leben öde und leer, doppelt und dreifach leer, weil mir der Glaube an ein Wiedersehen fehlt!

Wie habe ich schon die Menschen beneidet, die unumstößlich davon überzeugt sind, ihre verlorenen Lieben dereinst wiederzufinden, wie unsagbar glücklich sind sie daran mit ihrem blinden, skrupellosen Glauben! Welch wahres Wort hat doch der große Nazarener gesprochen, als er sagte: wenn ihr nicht werdet wie die Kindlein, werdet ihr nicht das Himmelreich ererben. Ich habe es stets schmerzlich empfunden, wenn in meiner einsamen Jugend (ich ging nie in die Schule, wurde von meiner guten zweiten Mutter unterrichtet) Stück für Stück von dem goldenen Schleier der Illusion gerissen wurde u. wie groß war oft der Zwiespalt für || meine Kindesseele, wenn die Mutter biblische Geschichte mit mir durchnahm u. Vater dazu erklärte: das ist alles Blödsinn, kein Wort dran wahr u. nach dem Tode ist der Mensch einfach alle!

Du lieber Gott – er hatte hie wohl Recht von seinem naturwissenschaftlichen Standpunkt aus, aber es war doch wohl verkehrt, denn ich fing nun an, über die Sache nachzudenken u. erinnere mich, daß ich ganz aufgebracht war, als ich die 10 Gebote lernen mußte u. bei dem 2ten Gebot an die Racheverheißung „bis in’s dritte u. vierte Glied“ kam, das konnte mein 9-jähriger Kopf nicht zusammenreimen mit dem Begriff: Gott ist die Liebe. Da gab es nur Meinungsverschiedenheiten zwischen den Eltern u. ich armes Erziehungs-Substrat stak || dazwischen u. wußte nicht, wer Recht hatte! – Meine liebe Stiefmutter, ein ganz ausgezeichnetes Wesen, hatte ein schweres Leben u. war nach den 32 Jahren ihrer Ehe vollständig gebrochen u. lebensmüde! Mit ihr ging zugleich ein herrliches Mal-Talent zu Grunde, das leider durch die Eifersucht meines Vaters nicht ausgebildet wurde! – – –

Natürlich litt Vater ebenso schwer unter diesen ewigen Differenzen wie seine Familie, denn er besaß ein gehöriges Teil Egoismus u. hielt seine Handlungsweise für durchaus richtig, sich aber für grausam zurückgesetzt u. schlecht behandelt. – – –

Ach, verehrter Herr Geheimrat, es waren traurige Bilder, die in den endlosen Nachtstunden an meinem Geiste vorüber zogen, u. mit dankbarem, wenn auch || wehem Herzen sah ich den Freund der Müden herannahen, nach dem Vater sich schon so oft gesehnt hatte! Ich kann mir dieses Gefühl der Lebensmüdigkeit so gut vorstellen, ist uns doch nach des Tages Arbeit schon der Schlaf ein treuer Freund, wie sehr erst sein Bruder, der ernste Genius, nach dem Tagewerk eines langen Lebens!

In den stillen Nächten am Lager des sterbenden Mannes wuchs mir aber riesengroß die wohl auch richtige Erkenntnis auf, daß sich mit der Materie auch das Ergebnis ihrer Zusammenwirkung, die sogenannte Seele auflöst – aber es war ein wunderbar heiliger Friede, der dieses allmählige Einschlafen der Geisteskräfte, dieses restlose Erlöschen umwehte. Sogar der Egoismus des Schmerzes um den Verlust mußte davor schweigen! ||

Der arme alte Mann hat schwer am Leben getragen! Anlage u. Erziehung hatten diese Künstlernatur schlecht ausgestattet für den Kampf um’s Dasein u. die Mißgriffe, die er tat, verbitterten auch ihm selbst das Leben, geschah doch alles immer nur in der besten Absicht! Mit seiner Unsterblichkeits-Theorie beging er den großen Fehler, sie allen Menschen aufzudrängen u. beschwor dadurch oft schwere Stunden voller Zweifel u. Enttäuschung für Andre herauf, natürlich nur in der besten Meinung! Dabei fällt mir ein, wie sich vor 12 Jahren die 17jährigen Töchter meiner Freundin (die nun auch schon 7 Jahre tot ist) – die Zwillinge Thekla u. Susi Schneider, von denen wir Ihnen ein Bild schickten – mit Vater über die Unsterblichkeit stritten. Sie waren ganz entsetzt || über die Metamorphose, die Vater verfocht u. Susi rief in heller Verzweiflung: „Aber um Gotteswillen, das ist ja schrecklich! Da komme ich am Ende als Kartoffel wieder auf die Welt und werde womöglich von einem Schwein gefressen!“ Vater nickte ganz ruhig mit dem Kopfe u. sagte in größter Gemütlichkeit: „Ja, liebes Kind, das kann wohl möglich sein.“ Da war aber das Unglück groß! Die Zwillinge u. ich finden nämlich ein Ende, ein Versinken in das Nichts, aus dem man gekommen, weit schöner u. friedvoller, u. wir haben nie verstehen können, warum solch nichtige, winzige Atome im Weltall, diese armseligen Menschlein, von der Naturmacht oder Gottheit den Vorzug vor andern Geschöpfen beanspruchen, in alle Ewigkeiten hinein aufgehoben zu werden!! Das sind || wir doch gar nicht wert! Und wie oft kann man die Beobachtung machen, daß es unzählige Menschen giebt, die weit unter dem Tiere stehen! Zahllos wie der Sand am Meere sind doch die Beispiele, wo die höhere Intelligenz dazu benutzt wird, Andere auszunutzen u. ihnen zu schaden, oder die wehrlose Kreatur zu mißhandeln u. zu morden; und doch halten sich auch diese Geschöpfe für wert, in ein „Paradies“ einzugehen. Ich habe schon oft darüber nachgedacht, daß doch die alten Heiden eigentlich die glücklichsten Menschen waren: sie lebten ohne Seelenkämpfe u. Zweifel einfach in den Tag hinein, u. erst mit der aufsteigenden Kultur kam auch die Verfeinerung des rohen Egoismus, dem von meinem, natürlich unmaßgeblichen Gesichtspunkt aus, ist doch mir der Egoismus die allerinnerste Trieb-||feder des Wunsches nach einem ewigen Fortleben!

Der Mensch will sich nicht in den Gedanken seiner Vernichtung finden u. auch nicht die, die er liebte, auf immer verlieren u. entbehren u. es ist ja auch fürchterlich, das Wort: Du siehst sie nie, nie mehr wieder! Das ist der Zug von Härte u. Grausamkeit, der durch die ganze Natur geht – Zerstörung des geschaffenen Schönen, sei es nun von herrlichen Gebilden so großer Kunst, daß alles Menschenwerk Stümperei dagegen ist, oder sei es von beglückenden Familienbanden, zerrissen wird eben eines Tages alles! Warum man sich nicht einfach diesem Naturgesetz beugena will, kann ich mir eben nur mit der Eigenliebe erklären u. wenn man im Leben die Augen auftut u. nicht nur Andre, sondern auch sich selbst ehrlich beobachtet, || dann kommt man zu der der Ueberzeugung, das wohl überhaupt alles auf Egoismus hinausläuft!

Ich selbst bin das lebende Beispiel dafür, daß sogar der Altruismus nur eine, ich möchte sagen, andere Form der Eigenliebe ist: ich finde es entsetzlich, daß ich für Niemanden mehr zu sorgen habe, bin aus diesem Grunde bald bei Susi in Stuttgart, bald bei Thekla in Karlsruhe, bald bei meiner alten Nachbarsfamilie in Rödelheim, wo wir 33 Jahre wohnten. Ueberall bin ich glücklich, heiter u. zufrieden, weil ich etwas leisten u. helfen kann, nur nicht in meinem doch so reizenden Heim hier, das ich aber darum doch nicht aufgebe. Diese fürsorgende Menschenliebe, die mir innewohnt, ist doch auch weiter nichts, als eine Äußerung einer Naturanlage, die mir wohltut u. mich glücklich macht. || also haben wir wieder den Egoismus. Eine weitere Form davon ist die Liebe, die ich bei meinen Freunden überall einheimse in Erwiederung meiner ego-altruistischen Fürsorge, die doch eigentlich ihren Lohn schon in sich selbst trägt – ist es doch das Einzige u. Schönste, was das Leben lebenswert macht, Andern tragen zu helfen an ihrem Bündelchen, denn leer geht Keiner aus! – – –

Und nun, verehrter Herr Geheimrat, verzeihen Sie, daß ich so in’s Plaudern geraten bin u. meine in Ihren Augen gewiß hirnverbrannten Ansichten ausgekramt habe – aber es war eine Seelenwohltat für mich in meiner Einsamkeit! Vernichten Sie aber, bitte, d. Brief. Das einzige Unterhaltsame für mich in meiner Wohnung ist meine Musik u.ein eingepflanztes Aquarium, bevölkert mit kleinen Fischen, || das am Fenster steht u. mir durch die Beobachtung dieses friedlichen Wasser-Idyll’s viel Freude gewährt.

Ich habe dabei erfahren, daß sogar die stumpfsinnigen Kreaturen der Fische empfänglich sind für Temperatur- u. Licht-Verhältnisse. Sobald das Aquarium im Kalten u. Dämmerlicht steht, rührt sich die ganze Gesellschaft kaum vom Platze, steht dicht am Boden, sobald aber das Wasser Zimmertemperatur hat u. vom Licht durchflutet wird, geht ein lustiges Leben u. Durcheinanderschießen an. Blos ein kleiner Hundshecht, der mit den Flossen paddelt wie ein schwimmender Hund mit den Pfoten, ist nicht aus seinem Phlegma zu bringen, er ist so faul, daß er nur frißt u. – gähnt, wie ich schon mehrfach beobachtet habe. – – –

So! Und nun kommt endlich mal was Vernünftiges, nämlich die Erklärung für die beifolgenden Bücher. || Ich wollte Ihnen gerne eine Erinnerung an meinen Vater schicken u. habe das Beste ausgesucht, was in dem wissenschaftlichen Bücherschatz meines Vaters enthalten war – die andern Werke stifte ich den 3 Söhnen in meiner Nachbarsfamilie zu Rödelheim, die sie gut zu ihrem Studium gebrauchen können. Sollten Sie das Buch schon besitzen oder keine Freude daran haben, dann bitte ich Sie, es einem strebsamen, unbemittelten Studenten zukommen zu lassen.

Das friedvolle Bild eines zur ewigen Ruhe eingegangenen Müden möge Ihnen dann noch eine kleine Erinnerung sein!

Mit allerherzlichstem Dank für die schönen Stunden, die Sie meinem alten Vater bereiteten, grüßt Sie

mit vorzüglicher Hochachtung

Ihre ergebene u. dankbare

Emilie R. Becker.

a korr. aus: wollte

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
08.02.1914
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 7747
ID
7747