Wilhelm Breitenbach an Ernst Haeckel, Bielefeld, 26. Oktober 1918

Bielefeld, 26.10.1918

Sehr verehrter Herr Professor!

Seitdem ich im August in Jena war, hat die sogen. Weltgeschichte ein anderes Gesicht bekommen und in der nächsten Zukunft stehen wir allem Anschein nach vor den grössten Umwälzungen der deutschen Geschichte in der neueren Zeit. Es ist zunächst eingetreten, was Sie schon lange vermutet hatten: Deutschland hat auf die Dauer der gewaltigen Uebermacht Englands nicht Stand halten können. England hat eine so übergewaltige eigene und fremde Macht ins Feld führen können, unsere eigenen Bundesgenossen sind einer nach dem anderen zusammengebrochen, dass wir unterliegen mussten. Dazu kam die sehr schlimme Zerrüttung unserer Front, die man mit vollem Recht einen moralischen Zusammenbruch nennen kann, und die unglückselige Uneinigkeit im Innern. So war es unvermeidlich, dass wir niederbrachen. Nun ist das „Finis Germaniae“ da und wir sind der || Gnade und Ungnade des Herrn Wilson in die Hand gegeben, wenn nicht eine energische Regierung das Volk mit flammenden Worten zum letzten Widerstande aufruft.

Die Wandlungen in der inneren Politik zeigen so recht deutlich die politische Kindlichkeit der lieben Deutschen. Sie wollten ein demokratisches Volk werden und schufen sich eine sog. demokratische Regierung. Aber siehe da: An der Spitze dieser demokratischen Regierung steht ein Prinz und die demokratischen Mitglieder lassen sich Excellenz nennen. Die berühmte Republik mit dem Grossherzog an der Spitze! Und diese Demokraten katzbuckeln vor dem Demokraten Wilson schlimmer wie je Höflinge vor einem absoluten Monarchen taten.

Wenn wir militärisch wirklich ganz fertig sind, wenn ganz und gar keine Ansichten da sind, den Krieg glücklich zu beenden, dann soll man sich kurz entschlossen unterwerfen und das Schicksal tragen, nicht aber immer noch weitere Tausende auf den Schlachtfeldern verbluten lassen. Ich denke aber immer daran: Wir haben noch Millionen Soldaten || im Felde stehen und sind hier im Innern denn doch noch nicht gänzlich zusammengebrochen. Unser Heimatgebiet ist unversehrt, kein Feind steht im Lande. Wenn das deutsche Volk sich unter derartigen Umständen unterwerfen will, dann ist es nichts anderes wert als von unseren Feinden so schlecht wie möglich behandelt zu werden. Dann wird nach diesem Kriege kein Deutscher sich im Auslande sehen lassen dürfen, ohne dass man ihn als Sklaven und Knecht behandelt. Sollen und müssen wir es soweit kommen lassen? Soll das deutsche Reich so schmachvoll zu Grunde gehen? Ich kann es mir noch nicht denken. Ich habe immer noch die Hoffnung, dass es sich zu einer grossen Tat aufrafft und das Joch der uns drohenden Fremdherrschaft abschüttelt.

Es muss für Sie überaus schmerzlich sein, am Ende Ihres Lebens diesen entsetzlichen Niederbruch des deutschen Volkes noch erleben zu müssen. Wir alle blicken in eine dunkle Zukunft hinein und sehen mit bangen Sorgen den nächsten Wochen, ja den nächsten Tagen entgegen. Unsere ganzen Gedanken sind || jetzt bei unserem teuren Vaterlande und alles andere tritt zurück gegen die Sorge um seine Zukunft. Was wird aus uns allen werden in einem zertretenen Deutschland, was wird aus unseren wissenschaftlichen Bestrebungen in einem Lande, das für ein Jahrhundert und länger zu arbeiten haben wird, um die Kosten des Krieges zu bezahlen, die die Sieger uns ganz sicher ohne Gnade aufbürden werden. Wir wissen es nicht und es ist müssig jetzt daran zu denken. Jetzt heisst es nur den Kopf hoch halten und die Gedanken auf den einen Punkt zu konzentrieren: Wie ist dem Vaterlande zu helfen, dass es nicht ganz in Elend und Schande versinkt? Das sind jetzt die herrlichen Tage, denen S. M. das deutsche Volk entgegen führen wollte! Seine Tage sind offenbar auch gezählt und im Volke hat man sich damit schon abgefunden und fühlt kaum ein Bedauern mit ihm.

Verzeihen Sie, lieber Professor, diesen langen Ausführungen, aber ich musste mich einmal Ihnen gegenüber aussprechen. Wie geht es Ihnen jetzt? Haben Sie einmal an die ‚Wanderbilder‘ gedacht?

Mit herzlichen Grüssen in alter Treue

Ihr dankbarer Schüler

Dr. W. Breitenbach

Brief Metadaten

ID
6191
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
26.10.1918
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
14,8 x 23,0 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 6191
Zitiervorlage
Breitenbach, Wilhelm an Haeckel, Ernst; Bielefeld; 26.10.1918; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_6191