Wilhelm Breitenbach an Ernst Haeckel, Bielefeld, 14. Februar 1916
DR. WILHELM BREITENBACH
BIELEFELD, 14.2.1916
Zastrowstr. 29.
Verehrtester Herr Professor!
Zu Ihrem diesjährigen Geburtstage spreche ich Ihnen meine herzlichsten Glückwünsche aus und hoffe, dass Sie diesen Tag bei guter Gesundheit verleben werden. Zum zweiten male fällt dieser Tag in die Zeit des grossen Weltkrieges, der immer noch halb Europa durchtobt und immer weiter um sich zu greifen scheint, und wer weiss, ob wir im nächsten Jahre schon Frieden haben. Es hat nicht den Anschein, als ob England bereits an Frieden dächte. Dass aber Frankreich oder Russland ohne die Einwilligung Englands die Waffen aus der Hand legen sollten, daran vermag ich einstweilen nicht zu glauben.
Inzwischen werden unsere wirtschaftlichen Verhältnisse von Tag zu Tag schlechter und die meisten Industriellen, die nicht eben Kriegssachen machen, blicken sehr besorgt in die Zukunft. Wenn wir nicht || eine so scharfe Zeitungszensur hätten, würden wir darüber wenig erbauliche Dinge lesen. Es beginnt an allen Ecken und Enden an Rohmaterial zu fehlen und manche Preise steigen unglaublich. Ist es dazu nicht ein sonderbares Zeichen, dass das deutsche Geld in allen neutralen Ländern am schlechtesten steht?
In Amerika scheint sich ja allerdings ein Umschwung zu unseren Gunsten vorzubereiten, so dass der Seekrieg gegen England mit schärferen Mitteln weitergeführt werden kann. Allein damit haben wir noch keine verstärkte Einfuhr notwendiger Rohstoffe. Gelänge es uns, den Engländern so viele Schiffe wegzunehmen resp. zu versenken, dass der Mangel an Schiffen sich im wirtschaftlichen Leben Englands noch viel empfindlicher wie jetzt bemerkbar machte, würde dadurch die Einfuhr von Lebensmitteln etc. nach England bedrohlich eingeschränkt werden können, dann könnten wir von einem Umschwung zu unseren Gunsten reden.
Dr. Paul Carus schrieb mir vor einigen Tagen, || er habe für den „Monist“ ein Gedicht mit dem Titel „The Overgod“ verfasst, das er mir zusenden werde. Er sähe gern, dass ich es übersetzte und er werde auch Ihnen ein Exemplar schicken. Bis jetzt habe ich das Heft nicht erhalten. Mehrere Büchersendungen, die mir aus Amerika angekündigt worden sind, habe ich nicht bekommen, während alle Briefe gut und uneröffnet ankommen, allerdings brauchen sie fast 6 Wochen Zeit. Ein Paket Zeitungen, das ich vor einigen Tagen erhielt, war augenscheinlich geöffnet worden und von mehreren Zeitungen fehlten die Vorderblätter. Der englische Zensor macht sich also auch hier bemerkbar. Dr. Carus kämpft drüben wacker für die deutsche Sache und erwirbt sich dadurch für uns grosse Verdienste. In den amerikanischen Zeitungen, die ich jetzt erhielt, stehen wieder die unglaublichsten Dummheiten über Deutschland und man begreift nicht, wie der Leserkreis grosser Blätter, z. B. des „New York Herald“, sich derartiges bieten lassen kann und wie die Redakteure, von denen doch gewiss einige Deutschland kennen, solche Narrheiten drucken lassen können. Man muss wirklich fast anneh-||men, die Völker seien von einer Art Geisteskrankheit befallen, die ihnen einen grossen Teil ihrer Vernunft genommen habe. Und hier im Lande hat man sich an den Kriegszustand bald so gewöhnt, dass man an ein Aufhören kaum denkt. Man nimmt Nachmittags den Tagesbericht in die Hand, liest ihn, legt in wieder weg und geht seiner Arbeit nach. Nur zu oft höre ich sonst ganz vernünftige Leute sagen: Der Krieg wird nach und nach langweilig. Der Kriegszustand scheint demnach fast normal geworden zu sein. In industriellen Gegenden empfinden die meisten Leute die Teuerung gar nicht so sehr, weil die Löhne und Geschäftsgewinne oft ganz ausserordentlich gestiegen sind.
Wer weiss, was uns das laufende Jahr alles bringen wird. Hoffen wir, dass wir in ihm dem Siege und Frieden wenigstens ein gutes Stück näher kommen werden und dass wir in ihm den Sturz unseres ärgsten Feindes, Englands, erleben können. Dann wird zu gleicher Zeit ein Aufstieg Deutschlands einsetzen, von dessen Grösse wir uns heute kaum eine Vorstellung machen können.
Ich wünsche von Herzen, dass auch Sie diesen Aufstieg unseres Vaterlandes noch erleben mögen.
Mit vielen herzlichen Grüssen und Wünschen
in alter Treue
Ihr Dr. W. Breitenbach