Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Heinrich Robert Göppert, [Jena, 7. Juli 1874]

Antwort auf die Berufung nach Bonn 4/7 74

An Geheim Rath Göppert

Hochgeehrter Herr

für das ehrenvolle Vertrauen, mit welchem Sie mir im Auftrage des Königlich Preußischen Unterrichts-Ministers eine ordentliche Professur der vergleichenden Anatomie an der Universität Bonn angetragen haben, erlaube ich mir, Ihnen zunächst meinen verbindlichsten Dank abzustatten. Bevor ich mich über die Annahme derselben erkläre, muß ich um einige Bedenkzeit bitten. Denn einerseits ist meine hiesige a Stellung durchb eine 13jährige befriedigendec Wirksamkeit mir so d lieb geworden, daß ich sie nur ungern aufgebe; andererseits fordern die eigenthümlichen Verhältnisse des mir angebotenen Bonner Lehrstuhls mich auf, alle Seiten der für meine fernere e Thätigkeit so bedeutungsvollen Angelegenheit reiflich zu erwägen und zugleich umf Auskunft über einige der wichtigsten Punkte zu bitten. ||

Wie Ew. Hochwohlgeboren mir mittheilen, beabsichtigt die hohe Staatsregierung, die Vertretung der Anatomie an der Universität Bonn in der Weise zu ordnen, daß wieder zwei ordentliche Professuren der Anatomie hergestellt werden, die eine für die descriptive und mikroskopische, die andere für dieg vergleichende Anatomie unter entsprechender Theilung des großen anatomischen Instituts und Museums. h Da diese beiden Professuren in der unmittelbarsteni sachlichen und räumlichen Beziehung j zueinander stehen, da beide k neben einander in demselben Gebäude und theilweise mit demselben Unterrichts-Material ihre Functionen auszuüben haben werden, und da die neue Einrichtung unter beständiger freundschaftlichen Zusammenwirken mit meinen nächsten Fach-Kollegen auszuführen sein würde, so muß mirl natürlich die Persönlichkeit desselben m von größter Bedeutung sein, und es würde mir daher sehr wichtig sein, zu erfahrenn, welche Berufung für den Lehrstuhl der descriptiven u. mikroskopischen Anatomie in Aussicht genommen oder bereits erfolgt ist? ||

Unerläßlich scheint es mir demnächst mich gegeno Ew. Hochwohlgeboren p offen über q meine r Auffassung der mir angetragenen Aufgabe auszusprechen. In meiner bisherigen 13-jährigen Lehrthätigkeit habe ich als Hauptziel die Förderung und den Anbau und Ausbau der allgemeinen Zoologie im umfassenden umfassendsten Sinne erstrebt, um so mehr als über Begriff und Aufgaben der vergleichenden Anatomie vielfach irrthümliche Ansichten vorhanden sind.s Vergleichende Anatomie ist in meiner Auffassungt nur ein Theil der wissenschaftlichen Allgemeinenu Zoologie, insofern diese letztere die gesammte wissenschaftliche Erforschung des Thier-Organismus zur Aufgabe hat, einen anderen Theil bildet die specielle Systematik des Thierreichs, einen anderen die Entwicklungsgeschichte und einen weiteren selbständigen Zweig die Physiologie. Die geschichtliche Entwicklung der Wissenschaft hat diese Zweige allerdings weit auseinander gerissen. Allein bei einer wahrhaft philosophischen Erfassung ihrer Aufgabe muß es das Ziel der Wissenschaft sein, alle diese getrennten Zweige wieder in der gemeinsamen Wurzel der allgemeinen Zoologie zusammenzufassen, wie es bei der nah verwandten Schwester Wissenschaft der Botanik ja stets der Fall gewesen ist. Nachdem ich nun, abgesehen von speciellen Vorlesungen über jene verschiedenen Zweige, die Vorlesungen über allgemeine Zoologie immer als den wichtigsten Theil meiner Lehrthätigkeit angesehen habe, habe ich daher stets 2 Hauptgruppen von Schülern ins Auge gefaßt, einmal die Mediciner und 2. die zukünftigen Lehrer der Naturwissenschaften. Was zunächst die Medicin betrifft, sov halte ich die Zoologie für eines der wichtigsten Fundamente der wissenschaftlichen medicinischen Bildung, und so ist sie auch auf den preußischen Universitäten angesehen worden, bis vor ungefähr 10 oder 12 Jahren ihr jene Bedeutung durch die damals angeordnete Ersetzung der naturwissenschaftlichen Prüfung der Mediciner, des „Tentamen philosophicum“ durch ein Tentamen physicum w geraubt wurde. Diese Verordnung ist damals von allen jenen tief beklagt worden, die für die medicinische Bildung die allgemeine wissenschaftliche Ausbildung für ebenso wichtig oder für wichtiger angesehen haben, als die Erlangung möglichst specieller technischer Kenntnisse. ||

Gewiß war es gerechtfertigt, die menschlichex Anatomie und Physiologie in diese Prüfung hineinzuziehen und auf y gründliche Kenntnisse in Physik u. Chemie besonderes Gewicht zu legen. Daß dieses aber auf Kosten der Zoologie und Botanik geschah, und daß diese mit Unrecht sogenannten „beschreibenden Naturwissenschaften“ (eine contradictio in adjecto!) entweder ganz aus der Prüfung eliminirt oder nur auf ein ganz nebensächliches Maaß reducirt wurden, muß als ein verhängnißvoller Irrthum beklagt werden. Denn es ist unmöglich, das für den Arzt nothwendige gründliche wissenschaftliche Verständniß des menschlichen Organismus – des complicirtesten u. vollendetsten Thierkörpers – zu erlangen, ohne zugleich mit den niederen und unvollkommeneren Formen der thierischen Organisation und mit der ganzen Entwicklungsreihe der Thierformen gründlich vertraut zu sein; ebenz so wenig als der Botaniker die Natur eines hochentwickelten Baumes zu verstehen aa vermag, ohne die ganze Naturgeschichte der niederen u. niedersten Pflanzen gründlich zu kennen. ||

Aus dem mir zugegangenen Anerbieten selbst glaube ich zu der erfreulichen Annahme berechtigt zu sein, daß auch das hohe Staats-Ministerium gegenwärtig diese Ansicht von der Bedeutung der vergleichenden Anatomie theilt und durch Gründung eines besonderen Lehrstuhls für dieselbe bb ihr Studium fördern will. In diesem Falle würde ich aber auch um das Recht ersuchen müssen, bei dem Tentamen medicumcc die Prüfungen der Mediciner in der vergleichenden Anatomie (resp. allgemeinen Zoologie) zu übernehmen. Da dem Vernehmen nach auch der verstorbenedd Max Schultze dasselbe Recht ausgeübt hat, würde dem wohl kein Hinderniß entgegenstehen. Ich würde aber weiter auch darum ersuchen müssen, mein Vorlesungs-Gebiet auszudehnen und zur allgemeinen Zoologie (Vergleichende Anatomie und Physiologie) sowie Entwicklungsgeschichte lesen zu dürfen. ee Allerdings steht zu fürchten, daß || hierdurch der offizielle Vertreter des zoologischen Lehrfachs an der Bonner Universität Professor Troschel ein [Textlücke] da dieser [Textlücke] und ich muß offen bekennen, daß in diesem Verhältnisse für mich ein Hauptbedenken gegen die Annahme des Bonner Lehrstuhls liegt. Denn erstens wird Professor Troschel voraussichtlich weder auf die Direction der im Poppelsdorfer Schlosse befindlichen zoologischen Sammlung verzichten, ff noch auch mirgg die Benutzung derselben für meine Lehrzwecke gestatten. In dieser Sammlung steckt aber ein beträchtlicher Theil von werthvollem Unterrichts-Material, welches der im anatomischen Institute vorhandenen zootomischen Sammlung fehlt. Prof. Troschel ist ferner Mitglied der wissenschaftlichen Prüfung-Commission und übt als solches einen bedeutenden Einfluß auf das zoologische Studium der Lehrer aus, welche sich der Prüfung pro fac. dor. unterwerfen.

Mein hiesiges Auditorium (40‒50 Zuhörer) setzt sich nur zum kleineren Theil aus Medicinern, zum größeren aus Studierenden der || Naturwissenschaften zusammen, welche sich zu Lehrern ausbilden, und ich erblicke in deren Ausbildung einen wesentlichen Bestandtheil meiner hiesigen Wirksamkeit. Es würde mir daher wichtig sein, zu wissen, ob mir ein Platz in der wissenschaftlichen Prüfungs-Commission neben Professor Troschel eingeräumt werden würde. [Textabbruch]

a gestr.: Stellung der Art; b gestr.: durch; eingef.: Stellung durch; c eingef.: befriedigende; d gestr.: sehr; e gestr.: Verhältnisse; f eingef.: um; g eingef.: die descriptive ... andere für die; h gestr.: Bei; i gestr.: nahen; eingef.: unmittelbarsten; j gestr.: , in welcher; eingef.: zueinander stehen; k gestr.: beide Lehrämter demgemäß; l gestr.: muß mir; eingef.: und da die ... muß mir; m gestr.: stehenden nächsten Kollegen; n gestr.: sein, und ich erlaube mir daher zunächst die ergebenste Anfrage; eingef.: und es würde ... zu erfahren,; o gestr.: zweitens; eingef.: mich gegen; p gestr.: die; q gestr.: mich über; r gestr.: die; eingef.: meine; s eingef.: In meiner bisherigen ... vorhanden sind.; t gestr.: Ueberzeugung; eingef.: Auffassung; u eingef.: Allgemeinen; v eingef.: einen anderen Theil bildet .... Medicin betrifft, so; w gestr.: ihr jenes Band; x eingef.: menschliche; y gestr.: Che; z eingef.: eben; aa gestr.: erkenn; bb gestr.: das; cc eingef.: bei dem Tentamen medicum; dd: eingef.: der verstorbene; ee gestr.: Da der Vertreter der Zoologie in Bonn Prof. Troschel, lediglich den rein descriptiven Theil der speciellen Zoologie vertritt, würde ein Conflict in dieser Beziehung wohl nicht zu fürchten sein, um so mehr da die von diesem dirigirten zoologischen Sammlungen im Poppelsdorfer Schloss für meine Lehrpunkte größtentheils wohl entbehrlich und durch die von Max Schultze angeschaffte zootomische Sammlung zu ersetzen wären.; ff gestr.: sondern; gg eingef.: mir

 

Letter metadata

Gattung
Verfasser
Datierung
07.07.1874
Entstehungsort
Entstehungsland
Zielort
Bonn
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 49609
ID
49609