Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Josef Brettauer, Heringsdorf und Berlin, nach dem 14. September 1858

Anna Sethe | Ernst Häckel | Dr. med. und prakt. Arzt | Verlobte

Heringsdorf und Berlin, den 14. September 1858

Du wirst vielleicht Deinen Augen beim Anblick obiger wenigen, aber inhaltsschweren Worte, nicht recht trauen, lieber Freund, und deßhalb füge ich einige Worte bei, theils zur Erläuterung, theils zur Berichtigung.

Was zunächst mein Bräutchen betrifft, so könnt Ihr euch schon a priori denken, daß solch wunderbares Wesen ein Ausbund von Naturwüchsigkeit sein muß und mit allen möglichen Tugenden begabt, die man an den meisten jetzigen Kulturmenschen wenigstens hier, vergebens sucht; denn sonst hätte ich mich nimmermehr verführen lassen können, meinen Grundsätzen so || zuwider zu handeln. Übrigens kenne ich sie schon sehr lange, daa sie zugleich meine Cousine und die jüngste Schwester meiner Schwägerin ist: ein echtes, deutsches Waldkind mit blauen Augen und blondem Haar und begeistertem Natursinn, klarem Verstand und blühender Phantasie. Von der sogenannten höheren oder feineren Welt hat und hält sie gar Nichts, was ich um so höher ihr zurechne, als sie darin auferzogen wurde. Sie ist vielmehr das gänzlich unverdorbene, reine Naturgemüth, wie ich nur euch allen ebenfalls ein solches für Euer später Leben wünschen kann. Seit einem Jahr sind wir fast täglich wenigstens ½ Stunde zusammen gewesen, so daß wir uns gründlich kennen und mit jedem Tag lieber gewinnen. Vielleicht seht Ihr aus eurer wissenschaftlichen Vogelperspective das alles noch mit sehr ironischem Blick an. Indeß kann ich Euch versichern, daß ich das früher auch that und nun doch gänzlich anderer Ansicht geworden b und sehr glücklich darüber bin. Also folgt nur meinem guten Beispiel. –

Was übrigens den praktischen || Arzt betrifft, den meine Alten mir als schuldigen Titel angehängt haben (damit jeder männiglich überzeugt sei, daß ich das Fegfeuer des preußischen Staatsexamens durchgekostet habe), so ist’s damit natürlich nicht so schlimm gemeint und ich denke nicht daran, jemals meinen Mitmenschen durch Dosieren von Medicamenten unglücklich machen zu wollen. Vielmehrc schwebt mir noch immer der cursus academicus als höchstes und einziges Ziel vor Augen. Nun werde ich jetzt noch um Vieles energischer darauf lossteuern. Vorläufig gehe ich im Januar auf ein Jahr nach Italien, um im Frühjahr in Florenz und Rom Kunst, dann im Sommer in Neapel und im Winter in Palermo und Messina Naturstudien zu treiben; besonders werden mich wohl die Gewebe der Weichthiere und anderer niederer Seebestien beschäftigen. Nach der Zurückkunft werde ich mich wohl allmählichd habilitieren und warten, bis mir Fortuna so eine kleine Professur der Zoologie zuschickt. –

Die Pläne des ver-||flossenen Sommers wurden mir durch Johannes Müllers Tod (für mich in specie den herbsten und unersetzlichsten Verlust) gänzlich zerstört und ich war genöthigt in den verlassenen Räumen seines öden Laboratoriums für mich allein zu arbeiten, wobei ich wenigstens das Glück genoß, seine köstlichen Sammlungen noch möglichst benutzen zu können. –

Unser altes Wiener Kleeblatt hat sich jetzt gänzlich aufgelöst. Der Mister ist Assistent auf dem bürgerlichen Spital, Krabbe Prosektor an der landwirthschaftlichen Schule in Kopenhagen, Fockee praktischer Arzt u. Assistent am Spital in Bremenf, Hermann von Chamisso hierselbst praktischer Arzt (natürlich ganz ohne Praxis, so daß er aus Verzweiflung Räderthierchen quält!) Wahrscheinlich werdet ihr in diesem Sommer einen früheren Assistent von Ludwig, Kottmeyer, kennen gelernt haben. Wenn Du ihn siehst, grüße ihn schön und theile ihm meine Verlobung mit, dasselbe bitte ich Dich mit Call, Becker und Richthofen und || wer sonst noch von meinen alten Bekannten da ist, zu thun. Ich hätte gern jedem Einzelnen geschrieben, bin aber begreiflicherweise jetzt in meiner Zeit äußerst beschränkt. Auch weiß ich nicht einmal, ob die Leute jetzt noch alle in Wien sind. Mit Richthofen ist dies wohl kaum der Fall. Wenn Du ihn wiedersiehst, danke ihm noch besonders schön für die geologische Arbeit, die er mir neulich geschickt hatte. Er hätte nur auch aber von sich hören lassen sollen. Dies gilt übrigens für Euch alle und ihr seid sämmtlich, in specie mein treuer longuo Romaneo, hiedurch feierlich aufgefordert mir endlich viel Nachricht von Euch, Euren Examensnöthen etc zukommen zu lassen. Ihr sollt auch bald Antwort haben.

Mit den herzlichsten Grüßen an Euch alle

Dein treuer Haeckel

N.B. Vergeßt nicht eure Adressen mitzuschreiben.

a korr. aus: sa; b gestr.: bin; c korr. aus: vielleicht; d eingef.: allmählich; e irrtüml.: Forck; f irrtüml.: Barmen

 

Letter metadata

Gattung
Verfasser
Empfänger
Datierung
14.09.1858
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
unbekannt
Signatur
EHA Jena, A 49504
ID
49504