Carneri, Bartholomäus von

Bartholomäus von Carneri an Ernst Haeckel, Marburg an der Drau, 10. Dezember 1899

Marburg 10. XII. 99.

Geliebter und verehrter Freund!

Diesen Brief kann ich nur mit dem beginnen, was ich unmittelbar nach Empfang Ihres Buches an Fräulein delle Grazie geschrieben habe: Ich habe in Wildhaus einen alten Jagdhund gehabt, der nicht mehr mitthun konnte, so oft wir aber auf die Jagd gingen, ein paar hundert Schritte mitging, dann sich niederlegte, von Zeit zu Zeit ein leises Heulen ausstieß, solang er uns seh’n konnte, und dann langsam heimkehrte: so verhalte ich mich zu Ihrem neuesten Werk; denn es ist mir unmöglich, es ernstlich durchzumachen, || es zu genießen. Meine Lesefähigkeit nimmt immer mehr ab, und so etwas kann ich mir nicht vorlesen lassen, weil ich nicht zu folgen vermag.

Aber ich habe es durchgeseh’n, und bewundere Sie mehr als je – es enthält den ganzen Haeckel, der soviel Wissen enthält als kein anderer Mensch – und ich fühle mich im höchsten Grade befriedigt.

Bei mir handelt sich’s ja nur um die Besorgniß, man könne aus Ihrem Gottesbegriff herauslesen, daß er die Entwicklungslehre vollende, mit der man ohne ihn nicht auslange, was für mich der Untergang des Darwinismus wäre.

Davon hab’ ich nichts gefunden und das || macht mich glücklich. Jahrelang bin ich Pantheist gewesen, habe dies aber aufgegeben, weil ich nichts davon hatte ohne persönliche Unsterblichkeit. Aber ich begreife, daß es ein religiöses Bedürfniß giebt, dem es genügt, dem Idealen des Wahren, Schönen und Guten einen Gottesanstrich zu geben u. daß unsere Lehre in dieser Form – ist’s ja doch nur eine Form – eine größere Verbreitung finden könne. Wenig Menschen schätze ich so sehr als Paul Carus, und mit diesem Anstrich genügt ihm der Buddhismus. In Ihnen stecken Giordano Bruno und Goethe. Schon in Ihrer Generellen Morphologie gilt Ihnen || das Causalgesetz als Gott. Daß mir dies nicht von Herzen ginge, und wär’s nur wegen der Grausamkeit der Causalität, unter der ich soviel leide u. der ich nur als blinder Nothwendigkeit (unter Gott würde ich etwas Anderes versteh’n) mich willig unterwerfen kann, beruht wohl nur auf einem Mangel; aber glücklicherweise ist dieser Mangel nicht so groß, daß ich mich nicht in die entgegengesetzte Meinung hineindenken könnte. Zudem hab’ ich mich nie einen Atheisten genannt. Betreff der letzten Gründe bin ich Agnostiker wie Huxley, u. das sind Sie auch und zwar ohne alle Beschränkung der Forschung, deren Feld unermeßlich ist.

Bin ich Ihnen so recht? Nichtwahr, Sie sagen mir’s bald mit zwei Zeilen? Niemand liebt und verehrt Sie mehr als Ihr

B. Carneri

Besten Dank für das herrliche neue Heft Kunstwunder in der Natur, u. alles Liebe von meinen Kindern.a

a Text auf dem oberen Rand von S. 1, um 180° gedreht: Besten Dank … meinen Kindern.

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
10.12.1899
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 4725
ID
4725