Bartholomäus von Carneri an Ernst Haeckel, Marburg an der Drau, 20. September 1899
Marburg 20. IX. 99.
Geliebter, hochverehrter Freund!
Wo sind Sie jetzt? Gewiß längst über alle Berge. Möchte es Ihnen u. Ihren Lieben möglichst gut geh’n!
Gestern hab’ ich Ihr herrliches Buch bekommen. Ich kam bei seinem Umfang aus dem Staunen nicht heraus. Da haben Sie ja zwei große Werke zugleich geschrieben! Daraus geht für mich zu meiner Freude hervor, daß Sie noch viel leisten werden. Dieser || Gedanke macht mich glücklich; denn Männer wie Sie sind unerschöpflich.
Leider kann ich mich nicht über das ganze Buch machen; aber es ist nicht denkbar, daß ich beim Lesen des Schlußtheils nicht auch im Vorhergehenden herum stöbere. Leider geht’s bei solchen Büchern mit dem Vorlesenlassen nicht. Mein Kopf hat sehr nachgegeben u. ich kann nicht aufmerken u. auffassen wie beim Selbstlesen. Beim Selbstlesen bin ich so ziemlich der Alte. Aber die Augen werden immer schlechter. Ich werde lange brau- || chen. Aber ich sehne mich nach Ihrer Erklärung der Seele wie nach einer Erlösung: es hat die Vollendung zu sein Ihres Begriffes vom Monismus. Vielleicht bringen Sie mir noch einen Gottesbegriff bei. Mit dem christlichen Gott steh’n Sie, womöglich, auf einem noch schlechteren Fuß als ich; aber mit dem Gott überhaupt steh’ ich auf gar keinem Fuß.
Und die Füße sind gar so wichtig: Noch kann ich gehen; || aber wie! Meine Leiden werden immer ärger und die Altersschwäche kommt dazu. Doch ich will diesen Brief nicht mit einer Schilderung meines Befindens schließen. Ich war wieder zwei Monate in Kärnten; vielleicht komm’ ich noch einmal hin, aber diesmal zweifle ich. Endlich muß es nicht sein. Die Hauptsache ist, daß die Sache noch immer nicht über meine Kraft geht. Ich lebe ganz in meiner Danteverdeutschung, die macht, daß mich das Leben noch freut, zumal es meinen Kindern, die noch auf dem Vogelberg sitzen, nicht besser geh’n könnte. Und jetzt Dank, tausend Dank und immer Ihr
B. Carneri