Snell, Karl

Missiv des Dekans der Philosophischen Fakultät, Karl Snell, Jena, 12. Mai 1869

O. Ph.

Assessores gravissimi

Der Prediger an der Irrenansntalt in Colditz, Julius Wallenstein, bewirbt sich um die Promotion in absentia. Seine Abhandlung führt den auffallenden Titel: Von der Genialität der Thiere. Das Auffallende und Anstößige dieses Titels verschwindet einigermaßen dadurch, daß der Verfasser mit dem Worte Genialität nichts weiter bezeichnen will als eine Zusammenfassung der drei Haupteigenthümlichkeiten, welche alle geistigen Verrichtungen und Aeußerungen der Thiere charakterisiren, nämlich der Originalität, der Instinktion und der Naivität. Ich ersuche Hr. Collegen Haeckel, sich über den Werth der Abhandlung auszusprechen. Ich bemerke noch, daß der Verfasser ein älterer Mann ist, der vor ungefähr 30 Jahren mein College am Vitzthumschen Gymnasium in Dresden war.

Snell

d. Z. Decan

den 12ten May 1869

Decane maxime spectabilis!

Im ganze Gebiete der Zoologie giebt es keinen Gegenstand, über welchen die Ansichten der verschiedenen Forscher, sowohl der mehr empirischen Naturforscher, als unter den mehr speculativen Philosophen, weiter auseinander gehen, als die Thierseele.

Was Herr Wallenstein in der vorgelegten Abhandlung darüber vorbringt, ist jedenfalls zum Theil besser, als Vieles, was namhafte Philosophen und Naturforscher darüber geschrieben haben. Insofern erscheint die Abhandlung als druckwürdig. Auch bin ich persönlich mit dem Hauptsatze des Verfassers, daß die Thierseele und Menschenseele der Art nach gleich, dem Grade der Entwicklung nach verschieden seien, einverstanden. Die Begründung dieses Satzes ist zum Theil originell, und zeugt von eingehendem Nachdenken und langer Beobachtung über den schwierigen Gegenstand. Dagegen sind andere naturphilosophische Sätze des Verfassers nicht begründet, und in der Begründung der Hauptsache vermisse ich persönlich die gehörige Berücksichtigung der Entwickelungs- (resp. Anpassungs- und Vererbungs-) Verhältnisse. Wenn der Verfasser nicht bereits 64 Jahre alt wäre, würde ich mündliches Examen beantragen. Da ich jedoch nicht weiß, was die Facultät in ähnlichen Fällen ˗ mit Rücksicht auf Alter, amtliche Stellung und eigenthümlichen Lebensgang des Verfassers (vgl. die Vitae delineatio) ˗ beschlossen hat, muß ich mich eines maßgebenden Votums enthalten, und beantrage, daß Ew. Spectabilität (die vielleicht auch über die Person des Verfassers noch Anhaltspunkte zur Beurtheilung zu geben vermag) ˗ eventuell Herr Geheimer Hofrat Fischer ˗ mit dem Votum vorangehen.

Haeckel

Ich kenne die Literatur über Thierseelenkunde zu wenig, um zu beurtheilen, ob die Abhandlung druckwürdig ist oder nicht; da aber Herr Professor Häckel gerade in dieser Beziehung die Abhandlung für druckwürdig erklärt, so habe ich gegen die Promotion nichts einzuwenden. Ueber die Person des Petenten weiß ich nichts weiter mitzutheilen, als daß er zu der Zeit, in welcher ich sein College war, ein junger Mann von strebsamen, aber ins Unbestimmte gerichtetem Geiste war. Nachdem er das Studium der Theologie aufgegeben hatte, besuchte er die Malerakademie in Dresden, und war zugleich Lehrer an dem Blochmannschen Institut und dem damit verbundenen Vitzthumschen Gymnasium. Einige Jahre später kehrte er nach Leipzig zurück und wandte sich wieder der Theologie zu. Wenn die Abhandlung gedruckt werden sollte, so möchte ich wünschen, daß der Titel geändert würde. In England würde das Wort Genialität auf dem Titel dieser Abhandlung keinen Anstoß erregen; aber in Deutschland ist es doch kaum zulässig.

Dem Wunsche des Hr: Prof. Häckel entsprechend ersuche ich den Hr. Geheimen Hofrat Fischer, zunächst sein Votum folgen zu lassen.

Snell

Decane maxime spectabilis!

Die Arbeit des Hr, Wallenstein ist lediglich philosophischer Art. Ich habe gegen den Druck derselben schon das formale Bedenken, daß sie (Lebenslauf, Titel und persönliches Vorwort abgerechnet) kaum 20 vielleicht geschriebene Seiten beträgt. Dieser Mangel des Umfangs wird nicht ersetzt durch die Neuheit des Inhalts oder auch nur durch eine ungewöhnliche Schärfe des Urtheils. Gewiß hat der Verfasser manches Richtige gesagt, und ich habe auch nichts gegen die Absicht, die ihm vorschwebt. Doch hat er seine Ansicht weder klar zu formiren noch zu entwickeln gewußt. Es ist unklar zu sagen, daß „der Mensch sich wesentlich vom Thier unterscheidet und beide der Art nach gleich angelegt seien“! es ist ebenso unklar, daß beide „der Art nach gleich angelegt, doch dem Grade nach unendlich verschieden seien“!! Alles wird in demselben Satze gesagt (S. 16). Der Unterschied zwischen „Genie“ und „Genialität“ ist so einfach und selbstverständlich, daß der Verfasser ihn nicht erst zu berühren brauchte. Was er darüber sagt, ist verworren und unklar (S. 14 flg.). Die Bestimmung der Genialität ist weder erschöpfend noch in den Merkmalen, die sie giebt (S. 17 flg.), wissenschaftlich genau und entwickelt. Ich möchte den Druck dieser Schrift wegen dieser äußeren und inneren Unvollständigkeiten nicht verantworten und empfehle daher der Facultät, die Bewerbung in der mildesten Form abzulehnen.

K. Fischer

Nach vorstehenden votis für Ablehnung. Stickel

- E.E. Schmid

- A. Schmidt

- Hildebrand

- A. Geuther

Beschluß: Abzuweisen. Snell

 

Letter metadata

Gattung
Verfasser
Datierung
12.05.1869
Entstehungsort
Entstehungsland
Zielort
Jena
Besitzende Institution
UAJ
Signatur
UAJ, M 408, 86r-87r
ID
47211