Carneri, Bartholomäus von

Bartholomäus von Carneri an Ernst Haeckel, Wien, 26. Mai 1892

Wien 26. Mai 1892.

Geliebter und verehrter Freund!

Tausend Dank für das Exemplar der Berliner Volkszeitung mit der herrlichen Behandlung des „conservativen“ Oberlehrers. An allen Ecken und Enden schießt heute das reactionäre Moment in die Höhe und lange wird’s währen, ehe die offenen und heimlichen Finsterlinge sich wieder verkriechen. Vor 15 Jahren hätte ein solcher Oberlehrer nicht es gewagt, den Weg der Öffentlichkeit zu betreten.

Das Blatt ist mir von Marburg hierher gesendet worden. Am 1. || Juni bin ich wieder dort und rühre mich nicht bis circa 20. August, um welche Zeit ich zu meinen Kindern an den Wörthersee gehe auf 3–4 Wochen.

Kürzlich ist der Onkel und Adoptivvater meines Schwiegersohnes, den Sie in Wien bei meinen Kindern getroffen haben, plötzlich, ohne daß das leiseste Leiden vorangegangen wäre, an Herzschlag gestorben. Und was schlimmer ist: dessen Frau leidet seit Monaten an einer bösartigen Neubildung, die ein vieljähriges Siechthum zur Folge haben dürfte. Der Zustand der Ärmsten ist ein entsetzlicher, und da mein Schwiegersohn, der auf 1½ bis zwei Jahre hätte eingeschifft || werden sollen, sich nicht entschließen konnte, seine Frau in diesem Spital der incurabili allein zurück zu lassen – vereint halten beide die Marter gut aus – so hat er den Dienst aufgegeben, obwohl er eine große Reise (Indien und China) gern noch mitgemacht hätte.

Mir geht es nur insoweit schlechter, als in neuester Zeit die Muskelkrämpfe meinen linken Arm – meinen einzigen brauchbaren – ergriffen haben, was mir an manchen Tagen das Schreiben ganz abscheulich erschwert. Im Übrigen geht’s mir nicht schlechter, so daß ich hier ein paar Wochen habe ganz angenehm zubringen können.

Hoffentlich ist die Besserung der Leiden Ihrer Frau von Dauer, und wird mir im Laufe dieses Jahres die Freude || zu Theil, Sie wiederzusehen. In die Trennung von der geliebten Tochter dürften Sie sich wohl noch nicht ganz gefunden haben. Ich kenne das. Aber wirklich wohlgerathene Kinder wissen ihre Eltern auch aus der Ferne glücklich zu machen. Es ist dies die einzige Fernwirkung, die ich gelten lasse.

Der bewußte Artikel ist im „Naturwissenschaftlichen Wochenblatt“ noch nicht erschienen. Na, dem Blatt sende ich nichts mehr, u. schreibe ich wieder etwas Ähnliches, so sende ich es Ihnen, damit Sie mir’s wo unterbringen.

Und damit grüße ich Sie von ganzem Herzen, meinen Dank für den herzlichen Gruß wiederholend.

In Treue ganz der Ihrige

B. Carneri

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
26.05.1892
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 4667
ID
4667