Carneri, Bartholomäus von

Bartholomäus von Carneri an Ernst Haeckel, Wien, 7. November 1877

Wien 7. November 1877.

Mein hochverehrter Herr!

Als Ihre werthe Gabe mit dem für mich ganz unschätzbaren Briefe im Wildhaus ankam, befand ich mich hier, und da man micha dort von Tag zu Tag erwartete, blieb die Sendung ein paar Tage liegen. Endlich wurde sie hierher befördert, aber unglücklicher Weise an demselben Tage, an welchem ich mich plötzlich losmachen konnte, und nach Wildhaus fuhr. In dieser Weise kreuzten wir uns, und so bin ich nach meiner Rückkehr nach Wien, wo ich jetzt bis Weihnachten fest angehängt bleibe, in den Besitz Ihrer Rede wie Ihres Schreibens gekommen, für welche beide ich Ihnen nicht genug danken kann. Für das, was mir Ihre Anerkennung ist, giebt es eben keine Worte.

Mit welcher Spannung ich Ihrer nahe bevorstehenden Schrift gegen Virchow entgegensehe, || können Sie sich leicht denken. Ich habe seinen Vortrag gelesen, und kann mir ganz gut vorstellen, was er will. Bedenke ich dabei, wie schwankend er sich von jeher der Urzeugung gegenüber gehalten hat, so kann ich mir auch vorstellen, warum er das will. Wie aber das, was er will, zu erreichen sei, das kann, denke ich, nicht nur ich, sondern er selber nicht sich vorstellen.

Daran denkt doch gewiß niemand, die gesamte Evolutionslehre mit allen ihren Hypothesen und Consequenzen in der Volksschule einzuführen. Darin liegt aber auch nicht die Schwierigkeit, sondern vielmehr darin, in der Volksschule schon nicht etwas zu lehren, das in unlöslichem Widerspruch steht mit der Wissenschaft. Da ist es mit dem Bestimmen einer Gränze nicht abgethan, denn es giebt kein Mittel eine Gränze dieser Art respectiren zu machen, weil sie keinen Respect einflößt, und Gewalt in derlei Dingen nicht anwendbar ist. Das Beispiel Okens ist sehr unglücklich || gewählt, denn von jedem ächten Manne gilt das Wort: Hier stehe ich, und kann nicht anders. Der jeweilige Standpunkt der Wissenschaft wird nicht bestimmt allein durch das allgemein als erwiesen Anerkannte, sondern er wird mitbestimmt durch die herrschenden, oder wenigstens vorherrschenden Hypothesen, die, den Zusammenhang des Erwiesenen herstellend, diesem oft erst einen Sinn geben, und den Ausblick in einen weitern Fortschritt eröffnen. Für jeden Einzelnen ist die Gränze des Gewissens eine andere, und jeder kann nur mit Sicherheit lehren, wenn er von dem ausgeht, was ihm als gewiß gilt. Und wollte man auch den Einzelnen hindern, dies oder das beim eigentlichen Namen zu nennen; schildern wird er doch immer alles, wie es ihm erscheint. Und könnte man auch einen obersten Wissenschafts-Gerichtshof bilden, welcher jeden Gelehrten zwänge, bei jeder Hypothese ausdrücklich || zu erklären, daß sie noch nicht völlig erwiesen sei; kein Gerichtshof der Welt wird die Menschheit hindern, jener Hypothesen sich zu bemächtigen, die ihr einen tiefern Aufschluß versprechen. Was Virchow eigentlich bezweckt, ist unerreichbar. Wie ich dem Kinde keine Waffe in die Hand gebe, so werde ich weder einem Kinde, noch Menschen, die über den Horizont des Kindes nie hinausblicken werden, Vorträge über meine Weltanschauung halten. Aber ich werde trachten, daß Einer, ehe er völlig erwachsen ist, wisse, wie man mit Waffen umzugehen hat, und so hat der Gebildete allmälig bekannt zu werden mit den Consequenzen der modernen Weltanschauung. Das ist der Weg, die Gefahren, die ich nicht verkenne, zu mindern, die aber nicht, wie so Viele meinen, bedeutend größer sind, als die Gefahren der positiven Religionen.

Doch ich muß schließen. Entschuldigen Sie meine Weitwendigkeit, die bei der Eile, mit der ich schreibe, das, was ich sagen wollte, vielleicht recht mangelhaft ausdrückt, und seien Sie der aufrichtigsten Verehrung versichert, mit der ich zeichne

Euer Hochwohlgeborenen

dankbarst ergebener

B. Carneri

Vielleicht bringt das Dezember Heft des Kosmos einen Aufsatz über Urzeugung, den ich eingesendet habe, und Ihnen bestens empfehle.b

a eingef.: mich; b Text am oberen Rand von S. 4, um 180° gedreht: Urzeugung, den … bestens empfehle.

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
07.11.1877
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 4599
ID
4599