Carneri, Bartholomäus von

Bartholomäus von Carneri an Ernst Haeckel, Schloss Wildhaus, 26. Mai 1876

Wildhaus, 26. Mai 1876.

Mein hochgeehrter Herr!

Als Geschworener ausgeloost, habe ich vierzehn Tage in Cilli zugebracht, und während dieser Zeit ist mir Ihre werthvolle Sendung zugekommen. Ich kann Ihnen nicht sagen, welche Freude mir der bloße Anblick bereitet hat. Nach Hause zurückgekehrt, machte ich mich aber auch gleich darüber her, und gestern Abend bin ich damit zu Ende gekommen.

Selbstverständlich maße ich mir kein Urtheil an über die rein naturwissenschaftliche Seite Ihrer Hypothese der Perigenesis: mir fehlen die Kenntnisse, und damit das eigentliche Urtheil. Allein von meinem Standpunkt aus begrüße ich Ihren Gedanken || aus vollem Herzen, wie ich seiner Zeit Darwin’s Pangenesis begrüßt habe. Alles, was über die Zellentheorie hinausgeht, und auf die Unendlichkeit der Stofftheilung hindeutet, ist Wasser auf meine Mühle. Sie deuten aber nicht blos darauf hin, wie es Darwin thut, dessen Hypothese noch in einer starren Atomistik befangen ist; Ihre Hypothese legt den Nachdruck auf die Verbindung der Elemente, und macht bei dieser das Beharren wie die Abänderung allein von der Weise einer Bewegung abhängig, die uns den freiesten Ausblick in den Monismus gewährt. Rein aufgejubelt hat’s in mir bei der Klarheit, mit der Sie von der chemischen Wahlverwandtschaft nach der Einen Seite in’s Reich des Lebens, nach der andern in’s Reich der Mechanik übergehen; und mehr als je bin ich überzeugt, daß die rastlos fortschreitende Naturwissenschaft für alle wichtigen Punkte Erklä- || rungen bringen wird, die mit den Anforderungen einer nüchternen Philosophie in keinem Widerspruch stehen, richtiger gesprochen, die es einer nüchternen Philosophie möglich machen, fortzuschreiten, ohne den Boden der Erfahrung unter den Füßen zu verlieren.

Gestehen muß ich schon, daß ich mich nicht entschließen könnte, eine bloße Empfänglichkeit für Eindrücke Gedächtniß zu nennen; aber nicht, weil ich da einen im strengen Sinn des Wortes wesentlichen Unterschied mache, sondern weil ich den Ausdruck einer psychischen Thätigkeit vorbehalten wissen will. Noch weniger könnte ich, bei meinem Begriff des Psychischen, von einer Atom-Seele reden, und zwar aus demselben Grunde; denn ein schließliches Zurückführen der Lust und Unlust, der Empfindung und des Willens auf Mechanik erscheint auch mir als eine || selbstverständliche Forderung des Monismus. Aus ähnlichen Gründen vermeidet es Wundt in neuester Zeit, die Empfindung einen Schluß zu nennen; die Philosophie des Unbewußten ist gleich dabei, falsche Münze daraus zu schlagen. Aber Ihre Hypothese steht gleich fest auch ohne jene Bezeichnungen, und was mich daran fesselt, ist die Anschaulichkeit, welche dadurch die Differenzierbarkeit gewinnt, die wir bei den Ganglien zur Erklärung der psychischen Thätigkeit voraussetzen müssen. Ich kann aber alles nur auf meine Weise verwerthen. Ihrer Generellen Morphologie verdanke ich meinen jetzigen Standpunkt in der Psychologie, insofern Sie mich auf Wundt aufmerksam gemacht haben, d. h. auf den Weg, den er geht, als den einzig richtigen. Warum er schließlich (Seitea 862) doch eine Art Extraseele annimmt, ist mir unbegreiflich. Vielleicht kann man meine Lösung noch unbegreiflicher nennen; doch ich bilde mir ein, daß sie Ihrer Anschauung näher stehe, und weil meine Anschauung noch mehr sich befestigt durch Ihre neueste Schrift, finde ich gar keine Worte, um Ihnen für Ihre Freundlichkeit zu danken, ganz der Ihrige

B. Carneri

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Letter metadata

Empfänger
Datierung
26.05.1876
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 4597
ID
4597