Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Anna Sethe, Paris, 20. April 18[60]

Paris 20.4.60.a

Wiedersehen, Wiedersehen! meine liebste, beste, einzige Änni! Das ist eigentlich das einzige, worin ich jetzt noch lebe und wovon ich Dir also in diesem Brief allein noch schreiben möchte. Meine ganze Seele ist Tag und Nacht von diesem einzigen unvergleichlichen Gedanken erfüllt, der mich unaussprechlich glücklich macht. Und doch kann ich Dir mit lahmen Worten und vollends durch die Feder, dies kalte, todte Mittelinstrument, nicht den kleinsten Theil der Wonne ausdrücken, die mich bei diesem Gedanken jeden Augenblick durchströmt. Auch brauche ich es wohl nicht, da Dein Herz, wie in allem andern, so doch vor allem in diesem Punkt, dem meinigen nicht nachstehen wird und gewiß mit nicht minderer Ungeduld, Spannung und Sehnsucht dem seligsten Moment unseres bisherigen Lebens entgegenstrebt. Dies ist nun schon der letzte Gruß von fremdländischem Boden und in etwa 8 Tagen erhältst Du den ersten deutschen wieder, dem dann Dein deutscher unmittelbar auf dem Fuße selbst folgen wird. Ich wollte Dir eigentlich schon in diesem Briefe den Tag der Ankunft bestimmt melden, habe ihn aber in dem Trouble der letzten Tage noch nicht festsetzen können. Die Masse des neuen Großen und Schönen ist hier so groß und überwältigend, daß man einige Zeit braucht, um sich nur erst in dem Übermaaß der hier aufgehäuften Naturmerkwürdigkeiten und Kunstschätze zurecht zu finden. Vor allen gilt dies von den naturhistorischen Sammlungen im Jardin des plantes, von den verschiedenartigen Kunstsammlungen des Louvre und ganz besonders von der Gemäldegallerie im Schloß von Versailles, dem Großartigsten der Art, was in der Welt existirt. Denk Dir ein Schloß, wenigstens 3 mal, vielleicht auch 4 – 5 mal so groß als das Berliner und dies in allen Räumen, allen Etagen von oben bis unten dicht mit historischen Bildern gefüllt die ganzen Wände Bild an Bild behängt – und Du wirst Dir wenigstens von dem Umfang dieser Sammlung, die ausschließlich eine vollständige Geschichte Frankreichs in Bildern, von der ältesten bis auf die neuste Zeit enthält, einen ungefähren Begriff machen können. || Natürlich ist unter dieser Unmasse viel schlechtes Zeug, aber auch eine ganze lange Reihe der schönsten und schönsten und größten Kunstwerke ersten Ranges, vor allen die wundervollen Bildern von Horace Vernet, die alles andere, was ich bisher von historischen Gemälden gesehen, weit übertreffen, selbst Kaulbach.

Dieser unvergleichliche Schatz wird also noch einige Tage in Anspruch nehmen, ebenso die herrlichen Gemälde, Statuen und ethnographischen Sammlungen im Louvre und endlich die prächtigen lebenden und todten Thiere und Pflanzen im Jardin des plantes.

Mein spätester Abreisetermin würde Freitag 27 sein und ich also spätestens Montag 30.4 in Berlin eintreffen. Vielleicht reißt aber der Geduldfaden schon ein paar Tage früher, ich würde dann Mittwoch 25.4 abreisen und Sonntag 28.4 bei Dir sein. Es wird sich dies danach richten, ob ich in den nächsten Tagen noch ordentliche Zeit auf die 3 genannten Sachen verwenden kann und ob noch Receptionsfähigkeit für meine Augen vorhanden ist, da der Sinn doch schon längst anderswo weilt. Tag und Stunde der Ankunft (am 28 oder 30 April) wird Dir also mein nächster Brief aus Bonn melden, den ich gleich nach meiner Ankunft daselbst abschicken werde. In Bonn werde ich mich nur 1 – 2 Tage aufhalten. An Karl habt ihr wohl geschrieben, daß er doch ja kömmt. Kann er sich denn nicht so einrichten, daß er bis incl. des 3.5. dableibt? Ich fürchte, daß mir diese letzten 8 Tage, trotz der beständigen mannichfaltigen Beschäftigung und trotz der vielen großartigen Eindrücke, die sich in bunter Masse von Stunde zu Stunde häufen, dennoch sehr lang werden werden [!], wie es schon mit der letzten Woche der Fall war. Von einem eigentlichen Genuß der hiesigen Kunstwerke etc ist natürlich unter diesen Umständen keine Rede; ich sehe mir das alles eigentlich nur in dem Gedanken an, zu Haus, wenn ich Dir davon erzählen kann, Genuß daran zu haben. Mein einziger Genuß ist immer und ewig nur der eine, eine Gedanke an Dich, an das Liebste und Beste, was mir die Welt geben kann. || Ich habe mich in der That während des ganzen Pariser Aufenthalts (und in den folgenden letzten 8 Tagen wird dies natürlich noch viel mehr der Fall sein!) in einer so seltsam gemischten Stimmung, in der die Wiedersehenshoffnung alles andere überwiegt, überall bewegt, daß ich unmöglich an einen reinen objectiven Genuß, an eine ruhige, volle Aufnahme der mich umgebenden Sehenswürdigkeiten denken kann. Überall, wo ich gehe und stehe, schwebt mir nur Dein Bild vor, mein liebster bester Herzensschatz, und ich mag ansehen, was ich will, so ist mein erster Gedanke immer: „Ja, wenn die Änni hier wäre, dann möcht ich das wohl lange ansehn!“ – und der zweite: „Ach, wenn ich sie nur erst wieder habe, dann kann dies und Alles Andere verschwinden!“ – Meine Begleiter, mit denen ich den größern Theil des Tages über zusammen bin, Max Schultze und Dr. Kuehne, behaupten, daß ich mich in beständigem Fieber befände und in der That streift dieser Zustand von unaufhörlicher innerer Aufregung und Unruhe so an das Fieberhafte, daß er von der Seele auch auf den Körper übergeht. Trotzdem ich mich den Tag über tüchtig müde laufe und soviel Kraft mit dem unaufhörlichen Umherwandern und Besehen verbrauche, daß mir der Schlaf Nachts recht gut thun könnte, habe ich doch, so lange ich hier bin, mich noch nicht ordentlich ausgeschlafen. Der einzige ewige, glückselige Gedanke, nun so bald meine Änni wieder zu haben, verfolgt mich auch im Schlafe bei jedem Traumbild, – und ich mag schlafen oder wachen, immer schwebt mir nur Dein süßes, liebliches Bild vor, das ich nun ja bald wieder mir so nahe weiß, daß ich über dem einen Gedanken Alles Andere vergesse! Liebchen, kann es wohl ein größeres Glück, eine höhere Freude geben, als uns beiden bevorsteht, wenn wir nach so langer bitterer Trennung mit demselben reinen ungetheilten Herzen, nur mit unendlich gewachsener Liebe, uns wiedersehen werden? || Und doch, trotz alles dieses ungemüthlichen Treibens, dieser fieberhaften Aufregung, trotz der beständigen unbefriedigten Unruhe, in der mich b die innigste Sehnsucht nach meiner liebsten, besten Seele erhält – trotz alledem möchte ich diesen kurzen Pariser Aufenthalt als Schlußstein der schönen Reise nicht missen. Das Gebiet meiner Weltanschauung ist doch dadurch wieder um eine große Provinz bereichert und der Kreis der Ideen um eine Reihe großartiger Bilder vermehrt worden. Der Zuwachs, den meine allgemeine Ausbildung in dieser kurzen Zeit durch die Aufnahme so vieler neuer Anschauungen und die bedeutende Erweiterung meines Gesichtskreises erhalten hat, ist so groß, als ich ihn hier nicht mehr erwartet hatte und wird mir in der Heimath, wenn ich all die reichen gesammelten Erfahrungen erst im Ruhe verarbeiten kann, erst recht klar und deutlich werden. Besonders gilt dies von dem französischen Volke von welchem ich jetzt überhaupt erst eine Idee bekommen habe, da ich vorher so gut wie nichts davon kannte. Daß Frankreich nach Italien hinsichtlich der Bildung Reife und Kultur des Volkes nur einen sehr günstigen Eindruck machen mußc, ist natürlich. Aber auch im Vergleich mit unsrer deutschen habe ich Vieles hier gefunden, was uns leider gänzlich abgeht und worin wir uns die Franzosen nur zum Muster nehmen können. Das ist vor allen der große, nationale Sinn, die gewaltige, kraftvolle Centralisation, die überall im Wesen und Treiben des Volks, wie der Regierung, hervortritt, idem die große Liberalität, mit der hier dem Geringsten wie dem Höchsten alle öffentlichen Bildungsmittel, Sammlungen, Bibliotheken etc zur Disposition gestellt sind. || Wohin man in Paris kömmt, überall tritt dies kräftige nationale Leben, dieser ausgebildete Gemeinsinn in sehr ansprechender Weise hervor und muß besonders dem Deutschen auffallen, in dessen Vaterland die Engherzigkeit und der niedrige Egoismus der Regierungen grade das entgegen gesetzte Resultat zu erzielen bestrebt sind. In der That, wenn mein deutscher Patriotismus in Italien erst eigentlich geboren oder mir wenigstens zum Bewußtsein gekommen ist, so erhält er hier in Frankreich erst recht den Schwung des kräftigen Strebens und ich glühe für den Gedanken, einst auch unsere Nation im Besitz des großen Gutes zu sehen, das die Franzosen in ihrer kräftigen und liberalen Centralisation bereits besitzen.

Lebhafter als je fühle ich den innigen Wunsch, mit an dem Werk der Befreiung unsers deutschen Volkes zu arbeiten, der Loslösung von der Banden des kleinlichen Egoismus, des streitsüchtigen Partikularismus, der innern Zerrissenheit, durch die bei uns die edelsten Kräfte vergeudet werden – und lebhafter als je glüht in mir der Haß gegen Adel, Pfaffen und Duodezfürsten, denen wir diesen jämmerlichen politischen Zustand Deutschlands verdanken, und vor allen gegen unsere preußischen Junker, die im Ausland noch mehr als Daheim, ihren frechen Hochmuth und ihre hohle Aufgeblasenheit zur Schau tragen. Sind wir diese erst los, so wird sich gewiß auch bei uns ein großes kräftiges nationales Leben entwickeln und gewiß werden wir dann die Franzosen auch in andern Dingen nicht nur erreichen, sondern auch überflügeln, da wir doch einen tiefen gesunden Innern Kern im Volk besitzen, der dem französischen fehlt: eine ernste, tiefe Sittlichkeit, ein volles innerliches Gemüth, ein glückliches, reines Familienleben, ein kräftiges Sterben nach Wesen und Kern der Sache, während man hier schon mit Außenseite und Schaale, Schein und Glanz sich genügen läßt. || Was die zufälligen Äußerlichkeiten meines Pariser Lebens betrifft, so hat sich dasselbe unerwartet angenehm gestellt durch die Anwesenheit von Prof. Max Schultze aus Bonn, welcher nun schon über 8 Tage hier ist und mit dem ich fast Alles gemeinsam besuche und genieße. Nicht minder angenehm ist die Gesellschaft meines anderen Stubennachbars, des Dr. W. Kuehne aus Hamburg, eines sehr ausgezeichneten, geistreichen jungen Physiologen, der hier schon seit 2 Jahren arbeitet und also mit Paris in allen Beziehungen schon sehr bekannt ist. Die Aufschlüsse und Beobachtungen, die er uns mittheilt, haben unsere eignen Anschauungen wesentlich ergänzt und uns schon jetzt ein ziemlich vollständiges Bild von dem merkwürdigen und specifischen Charakter der unvergleichlichen Weltstadt verschafft. diese Vortheile überwiegen immerhin reichlich den Nachtheil, der dadurch entsteht, daß meine beiden Gesellschafter nicht so sparsam, wie ich, mit Zeit und Geld umgehen.

Zeitweilig nehmen an unserm Kleeblatt auch noch 3 andere Deutsche Theil, wie Professor Riemann aus Göttingen, Prof. Czermak aus Pesth und dessen Bruder, ein hiesiger Maler, alles recht nette und gescheute Leute. Dieser Tage wird wahrscheinlich auch Koelliker, auf der Rückreise aus London, hier eintreffen, wogegen ich die Hoffnung auf Bezold jetzt aufgegeben habe. –

Nun laß Dir diese letzten 8 Tage nicht noch gar zu lang werden, meine liebste, beste Änni, leg Deinem ungeduldigen Streben und tiefen Sehnen noch auf eine kurze, letzte Woche Fesseln an, und sei im steten Gedanken an das noch bevorstehende Wiedersehensfest so innig glückselig und reich, wie ich es bin. Grüße die lieben Alten und die andern Verwandten und Freunde aufs herzlichste und nimm Dir selbst den innigsten Gruß und Kuß von Deinem nun bald!c glückseligen Erni.

Fast hätte ich über der Freude der Zukunft vergessen, Dir für die reiche Freude der Vergangenheit zu danken, die Du mir letzten Sonntag durch Deinen herzigen süßen Brief gemacht hast. 1000 Dank dafür!

e Hoffentlich erfreut mich übermorgen (Sonntag) wieder ein Brief! Hast Du denn meinen zweiten Pariser Brief erhalten?

a irrtüml.: 50; b gestr.: mich; c korr. aus: kann; d eingef.: nun bald!; e eingef. am linken Rand, Seite 6: Hoffentlich erfreut … Brief erhalten.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
20.04.1860
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 44597
ID
44597