Carl Gottlob Haeckel an Charlotte, Karl und Ernst Haeckel, Karlsbad, 27. Juni 1840
Carlsbad 27 Juni 40
Meine theure Lotte!
Vorgestern habe ich Deinen ersten Brief erhalten. Herzlichen Dank dafür, er hat mir große Freude gemacht. – Diese Zeilen sollst zu Deinem Geburtstage erhalten, den Du, wie immer, wahrscheinlich ganz im Stillen hinbringen wirst. Mein stilles Gebet zu Gott geht dahin, daß er mir Dich erhalte und uns in häuslichem Glück, wenn es sein Wille ist, noch eine Reihe Jahre erleben lasse, daß er uns mäßige Gesundheit gebe und daß unsre Kinder gedeihen mögen. Vereinige Dein Gebet mit dem meinigen und laß uns still und ina Ergebung das Weitere erwarten. Ich lese hier die Kirchengeschichte von Haase die ich mir mitgenommen und bewundere den Gang, den die christliche Religion genommen. Der Finger Gottes ist nicht zu verkennen und der beseeligende Glaube, den sie gewährt, das höchste Gut, was wir hier auf Erden haben. In diesem Glauben können wir der weitern Entwiklung der Welt ruhig zusehen, und doch jeder nach seinen geringen Kräften daran Theil nehmen. So hat sich Gott auch während der Regierung des verstorbenen Königs mächtig offenbart. Große Weltereigniße haben stattgefunden, sichtbar ist das Menschengeschlecht fortgeschritten und diejenigen Einrichtungen, welche hiezu nothwendig waren oder daraus hervorgingen, haben sich aufgedrängt, man hat sie angenommen, als sie nicht mehr zu vermeiden waren. So wird es auch künftig gehn! Wie kleinlich erscheint dagegen das Treiben aller derjenigen, welche die Welt regieren wollen und dabei nur vonb persönlichem Eigennutz und Intereße getrieben werden! Gott regiert die Welt, die irdischen Regierungen befördern seine Zweke oft am besten dadurch, daß sie das ganz Entgegengesetzte wollen! – So wollen wir denn auch ruhig das Weitere erwarten, Gott aber bitten, daß er den jetzigen König mit seinem Geist erleuchten und ihn darnach führe und leite! – Es ist wirklich etwas überraschendes, wenn man sieht, wie unter dem verstorbenen Könige Dinge und Einrichtungen zu Stande gekommen sind, von denen er gar nichts verstanden hat, wie eigentlich doch Gott durch die Zeitereigniße c regiert und die Sachen dahin geführt hat, wohin er sie haben wollte. || Man hätte glauben sollen, nur die höchste menschliche Weisheit d habe den preußischen Staat durch diese Krisen führen und erhalten können, Gott hat es gethan. Das Gefühl, was sich beim Tode des Königs für ihn gezeigt hat, war die Achtung vore seiner Frömmigkeit und Redlichkeit, f vor seinem guten Willen, immer das zu thun, was er für das Beste für sein Volk hielt. Er hat darin manchmal geirrt, mancher geistigeg Druk hat unter ihm statt gefunden, dennoch meßen wir ihm denselben nicht bei, weil er nach seiner besten Erkenntniß handelte. Seine Regierung zeigt, daß nicht Talent und Genie allein die Staaten regieren, h Sittlichkeit und Frömmigkeit sind ebenso große Mächte, freilich darf die richtige Einsicht i nicht fehlen, um die Völker weiter zu entwikeln, sie herrscht aber nicht immer oben, sondern wird von unten herauf den Obern oft aufgedrungen und so werden diejenigen Einrichtungen zu Stande gebracht, welche das Volk weiter fördern. –
Ich lebe hier so ganz auf meine Art, gehe viel allein spatzieren und hänge dann meinen Gedanken nach, angeregt durch j Lektüre und durch Gespräche, doch meide ich die Menschen nicht. Ich spreche diesen und jenen am Brunnen, bei Tisch, meine Wanderungen mache ich nicht allein. Wir haben seit 4–5 Tagen viel schlechtes Wetter, Regen und Kälte. Ich vermiße meinen warmen Oberrock zum Gehen oder den Makintosh. Mittags eße ich mit Wachsmuths, die Dich grüßen. Das Wetter ist in den letzten Tagen sehr störend gewesen. Diesen Morgen ging ich eine Weile mit dem Landrath v. Bose aus Torgau, der sich ziemlich erholt hat. Seine Frau (eine Niece der Frau von Bodenhausen) ist auf die Nachricht, daß er krank geworden, mit Schnellpost hieher gereist und hat ihn unvermuthet überrascht, sie wird in einigen Tagen nach Hause zurükkehren, er selbst wird nach Franzensbrunn gehen. Er erzählte mir, daß der Assessor von Trotha (der aus Stettin hier ist) k auf einmal auf ein[em] Auge sehr krank geworden, so daß er schleunig gestern nach Berlin abgereist ist, um dort die Hülfe der Augenärzte zu suchen. Der Brunnen wirkt bei den verschiednen Menschen sehr wunderbar, bei dem einen so bei dem andern so. Ich bin sehr vorsichtig, || doch bekam ich gestern Nachmittag Schwindel, nachdem ich 5–6 Tage nichts verspürt. Ich kam sehr schwindlich hier an. Ich lebe sehr Diät, trinke keinen Wein und trinke blos Theresienbrunn, was mir auch Mitterbach zur Pflicht gemacht hat. Dieser ist zum Theil selbst sehr krank an Kopfgicht und wird künftige Woche abreisen. Gestern besuchte mich Herr Partei (sein Schwager) auf ein Stündchen, der mir sehr wohl gefallen hat, ein in den Wißenschaften sehr wohl unterrichteter, gebildeter Mann, mit dem man sich sehr gut unterhalten kann.
Nachmittag Heute früh unterbrach mich der Besuch des D. Mitterbach und eines Superintendent Schulz aus Berlin (ich glaube an der Sophienkirche) der mit seiner Tochter hier ist. Ich eße mit ihm und Wachsmuths immer zusammen. Die schwierigste Aufgabe sind die ersten Stunden nach Tisch, wo man ganz vegetiren und auch nicht schlafen soll. Ich schlendre gewöhnlich umher, komme dann nach Hause und mache dann gegen Abend noch einen 2ten Spaziergang. Ich bin gut auf die Beine, k übernehme mich aber nicht. Langeweile habe ich eigentlich noch nicht gehabt, da schlimmstenfalls die Bücher aushelfen. Unendlich oft denke ich an Euch, meine Lieben, an denen ich mit zärtlicher Sehnsucht hänge. Das gewöhnliche Treiben der Welt läßt mich gleichgültig, aber die weitere Entwikelung der Menschengeschichte, m Staaten und Völker intereßirt mich ungemein. Mit großem Intereße lese ich, wie sich das Christenthum in den ersten Jahrhunderten entwikelt hat. Der Glauben an Gott, an deßen Kraft und Weisheit wird durch das Studium der Geschichte immer größer. In welcher Verderbniß hat sich das Menschengeschlecht schon befunden und immer hat Gott geholfen. Wie glüklich sind wir in einer Zeit zu leben, wo das Christenthum auf der Erde schon so tiefe Wurzel geschlagen, seine seegnenden Wirkungen schon so weit verbreitet hat! Wie viel gebildete Menschen trift man überall, die von der aus dem Christenthum ausgegangenen Bildung durchdrungen sind! Es ist ein ganz andres Leben als vor Tausend oder 2000 Jahren! Wie mächtig endlich, wächst jetzt inn uns die Hoffnung eines dereinstigen beßern Lebens, ohne daß unso deshalb das gegenwärtige Leben abstößt oder anekelt, nein, wir erkennen schon hier den Keim des Göttlichen, nur die Unvollkommenheit der irdischen Erscheinungen deutet uns sicher auf jenes Leben. ||
Daß das Quartier während meiner Abwesenheit in Ordnung gebracht wird, ist mir sehr lieb, ich werde sehr froh sein, wenn ich wieder in meinen 4 Pfählen bin und so wieder mit Euch lebe. – Ich bin jetzt heiterer als in den ersten Tagen. Grüße die Freunde und Bekannten herzlich und schreibe fleißig Deinem
Haeckel
Mein lieber Carl! Es ist ein ganz richtiges Gefühl, was Du bei dem Lesen des Testaments des verstorbenen Königs gehabt hast. Durch seine religiösen und sittlichen Tugenden hat er einen großenp Einfluß auf sein Volk gehabt und ich habe mich über den tiefen Eindruk gefreut, den sein Tod auf das Volk gemacht hat, so wie auch q mich selbst dieser Tod innerlich sehr ergriffen hat. Lerne hieraus, daß Tugend und Frömmigkeit die festesten Stützen in diesem Leben sind und danke Gott, daß Du unter einem Volke r lebst und zu einem Volke gehörst, wo Tugend und Frömmigkeit als solche Stützen erkannt werden und vielfältig einheimisch sind. – Vernachläßige die körperlichen Uebungen nicht, das Reiten erfordert viel Uebung, ehe man schließen (fest sitzen) lernt, ich denke du sollst es fortsetzen und vielleicht läßt es sich einrichten, daß wir manchmal zusammen reiten.
Mein liebes Ernstchen! Ich küße Dich in Gedanken und bin überhaupt mit meinen Gedanken täglich vielfältig bei Dir, Mutter und Bruder Carl. Ich hoffe, daß Du recht artig sein und der lieben Mutter recht viele Freude machen wirst. Denke oft fleißig Deines Dich liebenden Vaters!
Nun lebt alle recht wohl. Ich hoffe bald wieder etwas von Euch zu sehen und zu hören
Euer Vater Haeckel
a eingef.: in; b eingef.: von; c gestr.: mit; d gestr.: L; e gestr.: für, eingef.: vor; f gestr.: für; g eingef.: geistige; h gestr.: auch; i gestr.: gar; j gestr.: m; k gestr.: ge; l gestr.: und; m gestr.: las der; n eingef.: in; o gestr.: wir; eingef.: uns; p gestr.: tiefen; eingef.: großen; q gestr.: bei; r gestr.: selbst