Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, Nizza, 1. 5. Oktober 1856

[Lithographie Ansicht von Villefranche]

Nizza Mittwoch 1/10 1856.

Liebe Eltern!

Heute sind nun schon 14 Tage, die eine Hälfte meiner Anwesenheit in Nizza um, und es wird also wohl Zeit, daß ich euch endlich einmal einiges über mein hiesiges Leben mittheile. Eine ausführliche schriftliche Schilderung desselben erlaßt ihr mir wohl, da ich euch ohnehin das Alles bald viel besser und anschaulicher mündlich werde mittheilen können. Auch kann ich euch nur vorwiegend von unsern zoologisch-anatomischen Studien erzählen, da ich von dem Übrigen, was a euch viel mehr interessiren würde, nämlich von Nizza selbst und seiner herrlichen Umgebung, bis jetzt leider selbst nur sehr wenig gesehen habe. Es ist das zum größten Theile die Schuld des andauernden schlechten Wetters, das namentlich in den letzten 8 Tagen ganz abscheulich war. Die ersten Tage unseres Aufenthalts waren sehr schön. Leider versäumten wir aber, sie zu Excursionen in die Umgebung zu benutzen, da die Masse interessanter uns neuer Seethiere unser ganzes Interesse absorbirten. So kam es, daß wir von früh bis zum Abend ununterbrochen hinter dem Microscop saßen und nur zweimal einen Spaziergang in die nähere Umgebung machten, der aber grade hinreichte, meine Bummelbewegung und Wanderlust im höchsten Grade zu erregen, so daß ich mir fest vorgenommen habe, von jetzt an auch die herrliche Gegend mehr zu genießen. ||

Wie ich euch schon im letzten Brief schrieb, bilden wir zusammen ein vierblättriges zootomisches Kleeblatt, das so ziemlich den ganzen Tag miteinander verkehrt: Prof. Koelliker, welcher namentlich vergleichend histologische Untersuchungen, meist an Fischen, in specie über die Porenkanäle der Zellenwände, macht, Prof. Heinrich Mueller aus Würzburg, welcher sich exclusive mit der feinen Anatomie der Cephalopoden (Tintenfische) und (wenn es deren giebt) auch der Salpen beschäftigt, drittens Dr. med. Kupfer aus Dorpat (Assistent von Bidder) welcher sich im Allgemeinen mit den Seethieren bekannt machen will und außerdem in specie Histologie der Holothurien treibt, und endlich meine werthe Person, welche sich die microscopische Anatomie der Krebse zur Aufgabe gestellt und bisher viel schöne Zeit vergeblich dabei verschwendet hat. Wir wohnen sämmtlich in einer Straße, der Citè du Parc, der Häuserreihe welche sich längs der Bucht hinzieht, sehr nahe beieinander, nur durch je ein Haus getrennt und unsere Fenster gehen sämmtlich unmittelbar auf das Meer hinaus, von dem uns nur ein etwa 20–30 Schritt breiter nackter Strand trennt. Mein Stübchen ist sehr klein, so daß ich grade meine Siebensachen mit genauer Noth darin unterbringen konnte, wie auch folgender Grundriß nebst Beschreibung dieser klassischen Localität darthun wird: ||

[Zeichnung des Grundrisses]

(a) ist das große, einzige Fenster, in dessen Nische ein Tisch mit Mikroskop und Gläsern, Besteck und andern Instrumenten steht (b) an dem ich den ganzen Tag arbeite, und da ich das Fenster beständig offen habe, zugleich ganz direct die frischeste, reinste Seeluft einathme. Daneben steht (c) ein anderer Tisch, der wesentlich zum Zergliedern der Bestien dient, die meiner zootomischen Mordlust zum Opfer fallen (d) ist die Kommode, deren Laden meine wesentlichsten Habseligkeiten beherbergen, und auf deren Marmorplatte Bücher, Gläser, Flaschen, Instrumente, Pflanzen, Thiere und alle möglichen andern Siebensachen in schönster Unordnung bunt durcheinander liegen. (h) ist die Thüre, welche mich über eine kleine Treppe hinunter in die Via del Parco führt. (g) stellt ein riesiges, zum Schutz gegen die sehr lästigen Mücken rings verhängtes Himmelbett vor. Ein kleiner Waschtisch (f) nebst 3 Stühlen (e) vervollständigt das Ameublement, das an sich zwar sehr einfach ist, durch die Masse der verschiedensten darauf über und durch einander liegenden Naturalien aber das reizendste Ansehen gewinnt. Namentlich verleihen 2 ellenlange Seekrabben (Maja) welche zum Trocknen nebst vielem andern kleineren Krebszeug aufliegen und einen sehr intensiven Duft durch das ganze Haus (zum Schrecken meiner hysterischen Nachbarin, einer gräulichen trockenen Lady) verbreiten, dem Genrebild einen entschieden typischen Charakter. Jedenfalls kann man von der Werkstatt eines Seethiere studirenden Naturforschers in so beschränktem Raum kein Besseres verlangen. Um euch die günstige Lage der Wohnung noch mehr zu versinnlichen, füge ich auch einen Grundriß der nächsten Umgebung bei: (i) ist der Felsvorsprung, der die Bucht vom Hafen (k) trennt, (l) der Fischmarkt, (m) (No 8) meine, (n) (No 12) Köllikers und Müllers, (o) (No. 14) Kupfers Wohnung, (p) der Badeplatz. Zwischen letztem und dem Kastell (i) liegt der Strand der Fischer, an dem ihre Barken in Reihen aufgepflanzt sind. [Zeichnung: Lageplan] Außerdem sieht man in der ganzen großen Bucht kaum ein Schiff, außer die vorbeiziehenden Segel am Horizont. Auch im Hafen sieht man wenig Schiffe, und das meist kleines, unbedeutendes Zeug, höchstens Zweimaster. Überhaupt scheint der Seeverkehr, namentlich für eine so große Stadt, sehr schwach.||

Meine bisher sehr regelmäßig befolgte Tageseintheilung ist folgende: Um 6 Uhr aufgestanden und meistentheils, wenn das Wetter es erlaubt, sogleich ins Meer gestürzt, das in einigen Schritten erreicht ist. Ein solches Seebad, so recht frisch und kühl nach dem heißen Bett in der dumpfen Stube, ist ganz köstlich und ich ziehe es dem Abendbad noch vor. Dann promenire ich etwas am Strand und kaufe mir auf dem Fischmarkt das Material für die Untersuchung des Tages, meistens Krebse, namentlich den mir besonders am Herzen liegenden Palinurus quadricornis, auch verschiedene Garnelen-Arten, schöne Asseln (Cymothoen) etc. Der Fischmarkt ist im Ganzen, im Verhältniß zu der üppigen hiesigen Meeresfauna, gegenwärtig nicht sehr reich. Überhaupt haben wir für unsre Untersuchungen jetzt nicht die beste Jahreszeit, welche vielmehr von December bis März ist. So haben wir z. B. Siphonophoren, Pteropoden und andre zarte seltne Sachen, auf die ich mich speciell gespitzt hatte, noch gar nicht gesehen. Der Fischmarkt lieferte fast nur Fische und Krebse, auch nur in mäßiger Auswahl. Doch sind von ersteren z.B. die Rochen und Haifische recht gut vertreten. Torpedo, Chimaera, Squatina, Scymnus Lichia, Myliobates Aquila etc sind nicht selten. Außerdem findet man Labroiden, die Papageien unter den Fischen, mit den prächtigsten, bunten Farben, in großer Auswahl. Der gemeinste, am häufigsten gegessene und recht wohlschmeckende ist der hier Longo oder Mugo genannte Mugil Cephalus. Schellfische (Gadoiden) und Schollen (Pleuronecten) sind selten. Wenn wir allein auf diese gewöhnlichen Producte des Fischmarkts beschränkt wären, so wäre das Material allerdings ziemlich dürftig. Wir haben aber außerdem noch mehrere Fischer dressirt, welche uns alles Interessante zubringen. Doch wird regelmäßig früh der Fischmarkt besucht. Von hier gehen wir, meist um 8 Uhr in das Café royal und trinken unsre Chocolata à la Milanèse, von wo wir uns unmittelbar an die Arbeit begeben. Ist diese sehr interessant und das Material reichlich, so bleiben wir gewöhnlich bis um 5 oder ½6 ununterbrochen dahinter sitzen; im andern Fall wird bei Mr. Vial, dem Restaurant uns grade gegenüber, zugleich unserm Wirthe, um 12 Uhrb ein sehr frugales Mittagsmahl, meist nur Maccaroni mit etwas saurem rothen Niceen Wein, oft auch Fisch, eingenommen. ||

II.

Um 5½ gehen wir regelmäßig alle 4 zusammen schwimmen, ein Hauptvergnügen jedes Tages. Mit Ausnahme von ein paar spleenigen Engländern sind wir die einzigen Menschen in dem ganzen großen Nizza, die noch baden. Obwohl das Wasser noch sehr warm ist, gewiß durchschnittlich 15°, so ist das den Italienern doch schon viel zu kalt, und daß wir nun vollends gut schwimmen, ist eine so unerhörte Sache, daß bald der ganze Quai du Midi gewöhnlich voll Zuschauer steht. Das Bad ist ganz köstlich, die Wellen meist bis jetzt ziemlich stark. Doch ist es nicht entfernt so stark wie in Helgoland, (welches freilich auch viel kälter (konstant 11°) ist.) Wenigstens greift es mich, obwohl ich selbst oft zweimal täglich bade und zwar immer 10–15 Minuten, nicht im Entferntesten an, während mich das kurze Helgolander Bad ganz kaputt machte. Freilich auch möglich, daß ich seitdem um so viel stärker geworden bin. Nach dem Bade gehen wir noch ein wenig am Meeresstrand spazieren und schauen den köstlichen, immer neuen und wechselnden Wellenspiel zu, an dem wir uns zuweilen stundenlang gar nicht satt sehen können, besonders an der tobenden Brandung, die die c Felsen unterhalb des Kastells unterminirt hat, und bei starkem Wind unter gewaltigem Donner d häuserhoch weiße Schaumwolken emporschleudert. Ist es ganz dunkel geworden, so nehmen wir bei Mr. Vial um 7 Uhr Abends unsre Hauptmahlzeit ein, nach welcher wir entweder in das Café royal gehen und eine Schachparthie machen oder auf der Promenade (au Cours) noch ein oder 2 Stunden auf und ab spazieren und der Militärmusik zuhören. Bis Ende voriger Woche trafen wir hier regelmäßig Johannes Mueller nebst Frau und Tochter, mit denen wir dann immer ein paar Stunden verplauderten. ||

Seit mehreren Tagen sind diese jedoch spurlos verschwunden. Um 9 Uhr wird unser Tagewerk dann mit einem köstlichen Sorbhetto geschlossen, eine sehr große und billige Portion ausgezeichnetes Fruchteis, nach welchem wir uns rechtschaffen müde und schläfrig, alsbald zu Bett legen und bis zum kommenden Morgen des herrlichsten Schlafes genießen, falls uns nicht die infamen Mücken dann und wann wecken, welche sich trotz der allabendlich angestellten Jagd doch dann und wann in den Faltenvorhängen des Himmelbetts verbergen und uns mit ihrem giftigen Biß jämmerlich zurichten. Ich wurde gleich in der ersten Nacht so von ihnen zugerichtet, daß Gesicht, Arme und Hände ganz bedeckt mit dicken rothen Quaddeln waren, die empfindlich schmerzten und auch jetzt noch nicht ganz verschwunden sind. Abgesehen von dieser Plage und einigen anderen Schmarotzerinsecten des Menschen, die sich in großer Anzahl und Auswahl hier überall in Bett, Stube, Gasthaus etc vorfinden und an dem süßen deutschen Blut sich eine besondere Güte zu thun scheinen, befindet sich mein Cadaver, wie das nicht anders zu erwarten ist bei dem köstlichen Seebad und der nicht minder herrlichen Seeluft, außerordentlich wohl. Aber auch geistig bin ich so frisch und munter, wie den ganzen Sommer nicht. Mit meinen 3 Gesellschaftern, die in der That äußerst freundlich und liebenswürdig gegen mich sind, viel mehr als ich erwartet hatte (namentlich von Kölliker) komme ich ganz vortrefflich aus, und wir sind alle Stunden, die wir beisammen sind, so vergnügt, munter und lustig, als man es nur immer sein kann. Mit Kölliker und Müller gehe ich nicht anders, als wie mit Beckmann und Call, überhaupt wie mit meinen besten Freunden in Würzburg um, und wir sind so ungenirt intim miteinander, als wären wir jahrelang beisammen gewesen. ||

Außerdem mache ich ihnen, insbesondere Kölliker, durch verschiedene tolle Einfälle etc, an denen ich stellenweis sehr fruchtbar bin, so viel Vergnügen, daß Kölliker mich immer den „unbezahlbaren Haeckel“ nennt und mich versichert, daß ich allein die Reise nach Nizza schon werth wäre. Eigentlich, meint er, müßtet ihr mich mit ihm jetzt nach Paris gehen lassen, um mich dort für Geld zu zeigen. Namentlich Abends und beim Baden sind wir so lustig und fidel, daß wir stundenlang aus dem Lachen nicht heraus kommen und das ist bei den jetzt schon sehr langen Abenden recht wesentlich. Auch ich habe meinerseits Kölliker hier erst recht lieb gewonnen. Er ist im Grunde doch eine recht gute und treue deutsche Seele und die vielen Fehler, die man ihm immer nachsagt, sind lange nicht so schlimm und leiten sich sehr einfach aus seinem Hauptfehler, einer großen Liebe zum Geld, die aber auch nicht übermäßig ist, ab. Heinrich Müller ist ein sehr guter und netter Mensch, nur ein wenig philiströs, sonst aber sehr liebenswürdig. Auch mit Dr. Kupfer komme ich sehr gut aus, obwohl er sehr pedantisch, phlegmatisch, bedächtig und gesetzt, und auch in andern Stücken sehr verschieden von mir ist. Jedenfalls trägt diese beständige liebe deutsche Gesellschaft sehr viel dazu bei, mir den hiesigen Aufenthalt äußerst angenehm zu machen. Ohne sie würden mir die nicht mit wissenschaftlichen Untersuchungen ausgefüllten Mußestunden, namentlich am Abend, ganz schrecklich sein. Auch der große Mangel, den mir meine Unkenntniß der französischen und italienischen Sprache verursacht, wird mir so nur sehr wenig fühlbar, obwohl immer in dem Grade, daß ich mir fest vorgenommen habe, nach meiner Rückkehr die lebenden Sprachen ganz ernstlich wieder zu treiben. ||

Nizza. Sonntag 5/10 56.

Die schönen Tage, die am 2ten October dem elenden Regenwetter und Siroccosturm ein Ende machten, erlaubten uns gestern und vorgestern einige Ausflüge, so daß ich erst heute dazu komme, den Brief zu beenden. Ich kann euch nun aber zugleich noch Einiges über die Gegend von Nizza sagen, von der ich jetzt wenigstens einen wesentlichen Überblick erhalten habe. Was das Land im Ganzen betrifft, nämlich diesen ganzen Küstenstrich des Mittelmeers, soweit ich ihn bis jetzt übersehen habe, so kann man es nach unsern Begriffen im Allgemeinen durchaus nicht schön nennen. Bis an das Meer unmittelbar heran zieht sich überall eine Kette von Bergen oder mindestens sehr ansehnlichen Hügeln, die der südlichen Abdachung der Seealpen angehören. Es sind fast durchweg steile, zackige Kalkfelsen, die mit ihren weißgrauen nackten Kuppen dürr und kahl in den blauen Himmel hineinragen. Die Vegetation ist zwar für den Botaniker sehr interessant, eine ganz südliche Flora von immergrünen Halbsträuchern, nämlich sehr schönen Compositen und Labiaten, sonst aber in ästhetischer Hinsicht sehr wenig befriedigend, einförmig, trocken, dürr, und wegen der großen Wasserarmuth und dem Humusmangel ärmlich und spärlich. Wald bekleidet nur ausnahmsweis den Fuß dieser wüsten Felsgebirge und auch dann ist es meist nur trostloses Graugrün der silberblättrigen Oliven mit ihrem melancholischen verkrümmten schwarzen Holzwerk. Je trostloser und trauriger das ganze Hügelland der wüsten Küste im Allgemeinen so erscheint, um so reizender und lieblicher stellt sich mitten in dieser Wüste die Oase dar, in deren Centrum Nizza liegt und welche im wesentlichsten folgende Eigenthümlichkeiten zeigt: ||

[Lithographie: Quai du Midi in Nizza, darunter egh. Lageplan Haeckels mit Legende]

1 Bucht von S. Jean

2 S. Jean

3 Leuchtthurm

4 Bucht von Villa franca

5 Villa franca

6 Mont Alban

7 Stadt Nizza

8 Hafen

9 Castell

10 Bucht v. Nizza

11 Landzunge von Antibes

12 Leuchtthurm v. Antibes

13 Antibes

14 Var

15 Hügelkette Bellet

Das wilde Gebirgsflüsschen Var (14), welches grade nach Süden gehend, die beiden Reiche Frankreich und Sardinien trennt, mündet ein paar Stunden westlich von Nizza in das Mittelmeer. Beiderseits wird dasselbe von hohen Hügelketten eingeschlossen, westlich von den kahlen, öden, nackten Bergen der Provence, östlich von einer grünen waldbedeckten Hügelreihe (15) welche vom Meer ansteigend in weitem Bogen sich nordwestlich um Nizza herumzieht, und gemeinsam mit einer Reihe höherer, kahler Kalkberge im Norden und Osten, (unter ihnen vor allem der weiße hohe Monte Calvo vorragend) einen Halbkreis bildet, in dem, geschützt gegen den Norden, geöffnet gegen den Süden, der weite grüne Thalkessel eingebettet ist, dessen Südrand Nizza schließt.||

Was diesem weiten Talkessel seinen Hauptreiz verleiht und wahrscheinlich auch hauptsächlich seinen Ruf verschafft hat, ist das üppige Bild blühendster Fruchtbarkeit, welches sein grünes Gelände im grellsten Gegensatz zu der wüsten ringsumgebenden Kalkfelsenwelt darbietet. Das ganze Thal erscheint als ein einziger großer Hesperidengarten, in dessen blühendem, reichen Bezirk Kastanien, Dattelpalmen, Cypressen, Orangen, Citronen, Granaten, Lorbeeren, Johannisbrotbäume, Maulbeerpflanzungen, Rebengärten etc etc, kurz alle die prächtigen immergrünen Bäume der südlichen Flora, deren Name schon dem Norddeutschen ein halbes Paradies vor die Seele zaubern, in der üppigsten Fülle wuchern. Was aber dem ganzen Bilde erst seinen eigenen specifischen Reiz verleiht, ist die große glänzende Stadt am Meeresstrand, fast durchweg aus 6stöckigen, palastgleichen Häusern neuesten Styls gebaut, und vor allem die unabsehbare Heerde von vielen tausend freundlichen, weißen Häuschen, Villen, und Landgütern, welche in der reizendsten Gruppirung überall in den Boden und an den Wänden des weiten grünen Gartens zerstreut sind. Der herrliche Abend, an dem ich zum ersten mal vom Mont Alban aus dieses ganz einzige Landschaftsbild erblickte, wird mir unvergeßlich sein und mir noch oft in der Erinnerung das ganze Paradies von Nizza vor die Seele führen. ||

Mont Alban (6) ist das Kastell auf der Höhe des Bergrückens, welcher als spitzer Felszacken in das Meer vorspringend die Stadt (7) von Villa franca trennt. Letzteres (5) ist ein kleines italienisches Dorf mit einem befestigten Kastell und dem Arsenalhafen, an einer reizenden ganz geschlossenen Bucht (4) gelegen, welche im December bis März das Elysium der Zoologen bildet, jetzt aber bei der ungünstigen Jahreszeit uns nur wenig Ausbeute geliefert hat. Östlich wird sie von einer schmalen Landzunge eingeschlossen, auf dem vordersten Vorsprung der Leuchtthurm von Villa franca (3), an deren Ostrand des kleine Fischerdorf S. Jean (2) liegt, und an die sich im Osten eine neue große reizende Bucht anschließt, an deren Nordstrand in den kühnsten Biegungen auf riesigen Kalkfelsen unmittelbar am Meer sich die Cornide oder Riviera ponente hinzieht, die großartige Kunststraße von europäischer Berühmtheit, welche Napoleon von Nizza nach Genua führen ließ. Alle diese herrlichen Reize übersieht man mit einem Blick, wenn man auf der Höhe des Mont Alban, dem höchstem Punkt zwischen Nizza und Villa franca steht, dem Aussichtspunkt, der in Europa nur noch von Neapel übertroffen werden soll: Im Süden das göttliche tiefblaue Mittelmeer mit seinen 2 großen Buchten, westlich von Nizza, östlich von S. Jean, dazwischen die kleine Bucht von Villa franca. Im Norden großartige, nackte Kalkgebirgswelt, schroffe, öde, weißgraue Kuppenmassen, welche im Osten steil ins Meer abstürzen und den schmalen Ausläufer vorstrecken, auf dessen Spitze der Leuchtthurm von Villa franca thront. Im nächsten Vordergrund graue Olivenwälder. Dagegen nun welcher Kontrast der Blick nach Westen in das reizendste grüne Laubmeer, von viel tausend weißen Häuserchen durchsetzt, von der großen glänzenden Stadt am Meeresstrand umkränzt, von dem stolzen Kastell überragt! Und dann im fernen Westen die malerische blaue Gebirgskette der Provence, vor deren nächster Hügelreihe sich weit nach Süden die schmale Landzunge von Antibes (11) vorstreckt, mit dem schimmernden langhingestreckten Städtchen an ihrem Oststrand, und dem hohen, weitragenden Leuchtthurm (12) auf ihrer Spitze. ||

Vergeblich wäre das Bemühen, euch schriftlich dieses einzige Bild anschaulicher zu machen. Vielleicht vermag das Titelbildchen über dem I und III Briefbogen etwas zum Verständniß beizutragen. Für das Übrige vertröste ich euch auf die mündliche Erzählung. Es war vor 3 Tagen, als wir an einem herrlichen Abend zum ersten Mal dies göttliche Schauspiel genossen, beim herrlichsten Sonnenuntergang. Es that mir leid, nicht schon früher hinauf geklettert zu sein. Das erste Mal, als wir in Villa franca waren, gleich am ersten Tag unseres Hierseins, machten wir Hin- und Rückweg zu Wasser. Die einzige Excursion, welche wir außerdem in den 14 ersten Tagen machten, war nur auf das niedere Kastell (9) am Hafen, von wo man auch schon eine recht hübsche Aussicht, aber auf Bucht unterhalb von Nizza selbst beschränkt, genießt. Vorgestern benutzten wir das herrliche Wetter zu einem größeren Ausflug in entgegengesetzter Richtung. Wir gingen in die grünen Berge von Bellet hinein, die Hügelkette (15) diesseits des Grenzflusses Var (14). Auf einem schattigen, aber sehr steinigen und ziemlich beschwerlichen Weg, meist durch Weinberge, Oliven und Pinien Wald, klommen wir in 2 Stunden zur Kirche von Bellet empor, von deren Thurm wir eine höchst eigenthümliche Aussicht genossen, insbesondere einen sehr merkwürdigen Blick tief nach Norden in die innerste Zerklüftung des wilden nackten Kalkgebirges hinein, mit grotesken, phantastischen Felsgebilden. Östlich versperrte uns ein vom Monte Calvo herabziehender Höhenzug den Blick in den Kessel von Nizza. Um so schöner war der Blick westlich in die Provence hinein: ein malerisches wildes Gebirgsland, hie und da mit freundlichen grünen Plätzchen und kleinen Ortschaften, namentlich höchst malerisch eine Gebirgsstadt, S. Genée, vom Fuße auf der Aufschüttung rings um einen senkrecht nach Süden herabstürzenden Felskoloß gelagert. Im Süden schimmerte weithin im Sonnenglanz der blaue Meeresspiegel, darin hinter Antibes eine große breite niedere Insel. Östlich fiel der Berg, auf dem wir standen, ungemein steil in ein äußerst enges felsiges Thal mit dunklen, schroffen Wänden, ab. ||

IIII.

Durch diese Schlucht rieth uns der Priester des Dorfes unseren Rückweg zu nehmen. Wir trafen diesen würdigen Burschen bei seiner Heerde auf seinem Grundstück, die Feldarbeit commandirend, eine der klassischsten, typischen Figuren, die mir je zu Gesicht gekommen. Eine urkräftige, derbe, vierschrötige, äußerst wohl genährte, zugleich aber herkulisch muskulöse Greisengestalt von etwa 70 Jahr. Schwarzweißes Lockenhaar und ebensolche Reste eines unrasirten Bartes, mit einem schwarzen Schnupftabaksfiltrum in der Rinne der Oberlippe. Um den dickwammigen feisten Hals hing eine vergilbte Krawatte mit einem Priesterbeffchen. Den kahlen Schädel des kolossalen viereckigen Römerschädels deckte ein schwarzes Sammtkäppchen. Die Füße waren einfach mit geschnürten Sandalen gestiefelt. Die ganze übrige Kleidung bestand in einer einzigen weiten faltigen Toga, in die er sich mit der Würde eines römischen Senators und mit echt künstlerischem Geschmack äußerst malerisch eingehüllt hatte. Den Mangel des Hemdes, der Hosen und übrigen Kleidungsstücke wußte er damit so geschickt zu verdecken, daß nur im Feuer der Rede dann und wann die nackte Adamsgestalt durchblickte. Dabei waren die Reden des Alten, der nur im echt provencalischen Patais kauderwelschte, so äußerst naiv originell, daß wir uns lange mit ihm unterhielten. Aus allem ging hervor, daß er keineswegs zu den ascetischen Pietisten gehörte, sondern sein Leben genossen hatte und wohl in mehr als bildlichem Sinne der Vater seiner Gemeinde war. Mit einem Glase Wein in der Hand, ein Mädchen im Arm, hätte der alte Priester ein höchst charakteristisches niederländisches Genrebild geliefert. Schade, daß wir keinen Rembrandt da hatten! || Saltando al pede juvenile, meinte er, (springend mit unseren jungen Füßen) würden wir durch das Thal, trotz der molta aqua (vielen Wassers) einen herrlichen Rückweg haben. Auf diese Empfehlung hin stiegen wir dann durch seinen herrlichen Garten, in dem Lorbeeren, Myrthen, Erdbeerbäume, Granaten herrlich prangten, an der äußerst steilen Thalwand in den Grund des Thals hinab, waren aber nicht wenig überrascht, hier nicht die Spur eines Wegs, sondern nur ein etwa 20‘ breites, steiniges Flußbett zu finden, zu dessen beiden Seiten die Thalwand als nackte Felsplatte außerordentlich steil empor stieg. Etwa 2 Stunden waren wir gezwungen, in diesem Flußbett, bis zu seiner Einmündung ins Meer, hin zu wandern, zu eben so großem Leidwesen meiner Gefährten, wie zu meiner größten Freude. Der Weg durch diese Fiumare war allerdings nicht sehr bequem, da der wilde Bergbach, beständig im Zickzack das kiesige Flußbett kreuzend, alle 5 Minuten von uns übersprungen oder durchwatet werden mußte, indem an ein Ausweichen wegen der senkrechten Felswände nicht zu denken war. Mir machte aber dieses beständige Wasserspringen, wobei wir alle Augenblicke hinein tappten, vielen Spaß und außerdem war die Vegetation an den feuchten, schattigen Felswänden so äußerst üppig in herrlichster südlicher Fülle prangend, daß ich darüber den Schmerz meiner durch die spitzen Felszacken wund geritzten Fußsohlen ganz vergaß, auch an den Gras, Busch und Laubparthien, endlich an den überall üppigst wuchernden herrlichen Venushaaren (Capillus veneris), einem äußerst zarten, reizenden Farrnkraut, an den dunklen, triefenden Felswänden gar nicht satt sehen und suchen konnte. || Es war schon dunkel, als wir am Meer anlangten, der Abend aber so herrlich, daß wir nach unserer Rückkunft in Nizza um 8 Uhr noch an den Strand gingen und beim köstlichsten Sternenschein (der Mond, jetzt Neumond, war schon untergegangen) noch ein prächtiges Bad in der spiegelklaren See nahmen. Eine ganz köstliche Parthie!

Heute waren wir an einem herrlichen Sonntag Morgen mit Veranys Schleppnetz und seinem Fischer Guacchino wieder in der reizenden Bucht von Villa franca, fingen eine Menge schöner Holothurien, orangerothe Seesterne, Perlmuscheln (Haliotis), konische Oreaster, und vieles andere Gewürm. Auch versuchten wir heute zum ersten Male mit Johannes Muellers feinen Netzen pelagische Fischerei und fingen dabei ganz wundervolle Glasthierchen, wie von Krystall, die ich noch nie gesehen, reizende Pteropoden, Chryseis und Firola (ganz junge, mit wunderschönen Augen und Nerven), eine junge Siphonophore, die höchst merkwürdige Thalassicolla und anderes prächtiges Zeug.

Auch mit meinen wissenschaftlichen Untersuchungen bin ich in den letzten Tagen glücklicher gewesen. Nach vieler vergeblicher Arbeit habe ich gestern einige recht merkwürdige und ganz neue histologische Details an den Nerven und Gefäßen der Krebse gefunden, die für eine Dissertation ganz hübschen Stoff geben können. Gesammelt habe ich im Ganzen wenig und werde mich nur auf das Wichtigste beschränken. Seetange sind hier sehr selten und die wenige, sonderbaren, die in Villa franca vorkommen, habe ich noch nicht untersucht. Dagegen habe ich in der prächtigen Landflora auf den dürren Kalkbergen trotz der sehr vorgerückten Jahreszeit eine sehr reiche Ausbeute gehabt, meist sehr merkwürdige, charakteristische Pflanzen des Südens: z.B. wachsen auf dem Monte Alban wild: ||

Lavendel, Myrthe, Rosmarin, Centranthus, Scilla autumnale, Smilax aspera, Euphorbia dendroides, Plumbago, Statice cancellata etc. Das ist Alles höchst interessant, trotzdem ich die Botanik ganz aufgegeben habe.

Nun sollte ich euch eigentlich noch von Nizza und seinen Bewohnern reden. Es ist aber höchst wenig zu sagen. Nizza selbst ist eine höchst langweilige große Stadt im modernen Residenzstyl mit allen Üppigkeiten und Luxusmeublen einer solchen und einigen 1000 prächtigen, palastartigen, jetzt leer stehenden Wohnungen, die sich nur im Winter mit Fremden füllen, fast alles Engländern. Das Volk ist demgemäß höchst verdorben und entartet, moralisch und körperlich auf dem Hund. Die Weiber sind durch die Bank mordhäßlich. Man sieht auch nicht ein nur leidliches Gesicht. Ich bin ordentlich froh, daß ich vorher in Baden und der Schweiz so niedliche hübsche Mädchen gesehen habe; sonst könnte man hier allen Geschmack einbüßen. Viel hübschere Gesichter sieht man unter den Männern, die sehen aber im Übrigen meist so liederlich und verkommen aus, als hätte man die Gauner und Tagediebe von ganz Europa hier zusammengeschachtelt. Selbst die Fischer und Fischweiber, mit denen wir täglich verkehren, sonst gewiß der beste Theil der Bevölkerung, taugen hier nichts. Die Sitten und Sprache sind französisch, selbst unter dem niederen Volk. Bekanntschaften haben wir nur 2 gemacht, nämlich die der beiden hiesigen Naturforscher, des Zoologen Verany und des Abbé Montolivo, der auch Botaniker ist: beides sehr gefällig Leute, die mir sehr behülflich sind mit practischen guten Rathschlägen. Übrigens sahen wir sie selten, sind meist ganz auf uns beschränkt und damit sehr zufrieden und glücklich. ||

Leider ist nun schon die letzte Hälfte unseres Aufenthalts von Nizza vorbei. In 10 Tagen, am 15/10, gehts fort, Kölliker und Müller nach Paris, Kupfer und ich nach Genua. Dort bleibe ich 2 Tage und gehe dann über den Wallenstädter See nach Mollis, wo ich Schuler einige Tage besuchen werde. Dann über Zuerich nach Lindau und von da in einem Strich nach Berlin, wo ich Ende October oder Anfang November eintreffen werde. Wie sehr ich mich freue, euch wieder zu sehen und wieder mit euch leben zu sollen, könnt ihr kaum euch denken. An alle Verwandte und Freunde herzliche Grüße. An Tante Bertha zum 20/10 den innigsten Geburtstagsgruß und besten Glückwunsch, falls ich nicht selbst bis dahin noch mal schreiben kann. Von hier aus werde ich wohl nicht mehr an euch schreiben, vielleicht von Splügen. Wenn ihr mir aber bis zum 19t noch schreiben könnt, so schickt den Brief ebenfalls nach Splügen p. adr. praktischer Arzt Dr. Boner zu Dorf Splügen im Canton Graubündten, Schweiz. Sonst werde ich auch am 16ten in Genua nach poste restante Briefen fragen. Euren letzten Brief vom 18/9 erhielt ich richtig am 22/9, gerade als ich den vorigen, den ihr hoffentlich erhalten habt, nach der Post gab.

An die Freienwalder die herzlichsten Grüße. Wenn Karl nach Stettin schreibt, kann er Bertha und Anna sagen, daß Kölliker fast täglich von den hübschen Cousinen spricht, die in Würzburg solche Fourore machten und mich beständig damit anspricht und neckt. Überhaupt geht die gegenseitige Neckerei den ganzen Tag hier fort.

a gestr.: mehr; b eingef.: um 12 Uhr; c gestr.: die; d gestr.: do; e gestr.: die; f gestr.: ihm

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
05.10.1856
Entstehungsort
Entstehungsland
Zielort
Berlin
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 44161
ID
44161