Haeckel, Carl Gottlob

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 13. Februar 1856

Berlin 13 Febr. 56.

Mein lieber Ernst!

Diese Zeilen sollst Du zu Deinem Geburtstage erhalten. Wir werden an demselben Gott danken, daß er Dich uns zu unsrer Freude gegeben, und wir werden ihn bitten, daß er Dich erhalten und Dich zu Deinem Besten auf seinen Wegen leiten möge. Vor allem ist es aber auch Deine Pflicht, Gott nie aus den Augen zu laßen und die Dir von ihm verliehenen Kräfte aufs beste zu entwikeln. Gott hat uns mit Kräften für dieses Erdenleben begabt, damit wir sie für daßelbe gebrauchen sollen, sie sind ein anvertrautes Pfund mit dem wir wuchern sollen, solange bis wir abgerufen werden. Ich in meinem Alter kann nur noch recapituliren und Resultate aus dem Erlebten ziehen. Ich habe einen für dieses Leben ziemlich langen Zeitraum hinter mir und es sind bei mir so manche Erscheinungen vorüber gegangen. Da lernt mana dem Lauf der Dinge so manches ab. Die Wege des Herrn sind wunderbar, sie verschlingen sich oft so, daß man keinen Ausgang mehr sieht und doch gehen die Dinge unter den mannigfachsten Windungen vorwärts. In meiner frühsten Jugend sah ich das altlutherische Leben, das ist anders geworden. Der Rationalismus hat sehr zugenommen. Dieses ist ein sehr natürliches Ergebniß des Fortschritts und die Resultate der Naturforschungen haben dazu wesentlich beigetragen. Aber auch diese einseitige Richtung wird nicht vorherrschend bleiben und wir sehen bereits Erscheinungen entgegengesetzter Art auf religiösem Gebiet. Das Christenthum hat einen so tiefen Kern, daß dieser troz aller äußern Blüthen und Wandelungen immer derselbe bleibt. An diesen muß man sich halten, er ist in einfachen Worten im neuen Testament ausgesprochen und die allegorische Form hat nur dazu beigetragen, ihn um so populärer zu machen. Gestern Abend hörten wir einen Unionsb Vortrag von dem jungen Dieterici, der mehrere Jahre im Morgenlande gewesenc ist u. sich in Palästina, Egypten etc aufgehalten hat. Der Vortrag war wenn auch in den Umrißen nicht vollständig, doch ansprechend. Er hob besonders den Muhamedanismus und seinen Zusammenhang mit dem Judenthum und Christenthum hervor, das Eigenthümliche der religiösen Anschauungen der semitischen Stämme im Gegensatz der der indogermanischen. Das Christenthum und der Muhamedanismus werden sich nun in den nächsten Generationen besonders stark in der Türkei d berühren und es wird sehr intereßant sein, das sich gegenseitige Bekämpfen in allen Lebensverhältnißen zu verfolgen und zu erkennen: was auf dem Grunde des Christenthums ruht und was nicht? Die christlichen Griechen sind ein durch Despotismuse sehr verderbtes Volk und es werden neue Elemente hinzutreten müßen, um dort ein frisches Leben zu erzeugen. Der Zug der europäischen Kultur geht jetzt sehr stark nach dem Orient und der Kaiser Nicolaus hat wohl nicht geahnt, wie er durch seinen begonnenen Krieg diesen Zug gefördert hat. Es wird ganz etwas anderes daraus hervorgehen als er gedacht und gewollt hat. –

Wir leben seit 8 Tagen || seit uns der arme Adolph verlaßen hat, viel ruhiger. Das war keinef kleine Aufgabe, seine beständigen Zweifel und unruhigen Vorsätze niederzuschlagen. Diese dauern auch jetzt in Kiel in der Anstalt noch fort und nur die Furcht daß wir ihn unter gerichtliche Kuratel setzen möchten hält ihn in Gehorsam. Jede Stunde will er etwas anders, alle Beschäftigungen widern ihn an, das ist ein trauriger Zustand. –

Karl ist gegenwärtig in Wrietzen zum Schwurgericht, kommt aber alle 3–4 Tage nach Freyenwalde zu den Seinigen. Er hat in Wrietzen mit den dortigen Kollegen hübschen Umgang und seine Verhältniße scheinen sich durch seine Versetzung nach Freyenwalde wesentlich verbeßert zu haben. Im Sommer hat er die schöne Natur und der Ort wird viel von Auswärts besucht, so daß es ihm auch g dann an menschlichen Berührungen nicht fehlen wird. Ferner hat er viel mehr Muße als in Ziegenrück, er ist nicht so mit Geschäften überladen und kann etwas studiren. Sobald Du hier angekommen sein wirst, wollen Mutter und ich mit Dir nach Freyenwalde und unsern ersten Besuch abstatten. Hier ist jetzt viel warmes, regnigtes Wetter, gar kein Winter. Ich mache mir täglich viel Bewegung, gehe früh von 8–9 Uhr spatzieren um mein Waßer zu verdauen, bade nun den andern Tag in Seifenbädern, um die Blutgeschwüre, die immer noch hin und wieder neken, zu vertreiben, undh mache gegen Abend hin und wieder einen Besuch. Solange Adolph hier war, konnten wir ihn nicht füglich allein laßen. Jetzt fangen wir an, mit Bertha manches zu lesen. Ich lese ihr auszugsweise Deine Reisebriefe vor, die ich schon sehr inne habe. Sie ist wieder etwas beßer, muß sich aber noch sehr in Acht nehmen. Carl Sethe tanzt fleißig und Theodor ist fleißig auf seinem Gericht. Den SpätAbend bringe ich gern mit Mutter allein zu, ich liege dann auf dem Sopha und plaudre oder lese mit Mutter und unser hauptsächlichster Gegenstand sind unsre Kinder. Auch höre ich zuweilen ein Collegium bei Ritter über die Erdkunde, er ist noch sehr zurük und ich sehe nicht ab, wie er fertig werden will.

Schreibe uns nur bald: wenn wir auf Dich rechnen können? Vor einigen Tagen war Lachmann und der älteste Hein bei uns, die den Universitätsball mitgemacht haben. Hein meinte: ob Bekmann nicht lieber bei ihm logiren solle, da unser Quartier vom Mittelpunkt der Stadt, um sich umzusehen, zu entfernt sei? Wir wollen alles Bekmann anheimstellen, er mag erzählen, was ihm am meisten convenirt. Wir nehmen ihn sehr gern auf.

Für heute genug. Feiere Deinen Geburtstag mit Deinen Freunden und laß bald etwas von Dir hören.

Dein Dich innigst liebender alter Vater Hkl

a eingef.: man; b eingef.: Unions; c eingef.: gewesen; d gestr.: sich; e eingef.: durch Despotismus; f eingef.: keine; g gestr.: hier; h eingef.: und

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
13.02.1856
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 44125
ID
44125